Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
manchmal dachte ich, ich müßte in das Stahldrahtdach über seinem Kopf ein Loch feilen
und ihn hinausfliegen lassen. Aber dann dachte ich wieder, daß er ja ein gefährlicher Räuber und Vogelfresser ist. Ich wußte
nicht, ob es richtig sei, so einen Missetäter herauszulassen, und ich dachte; daß es wohl am besten wäre, wenn ich ihn bleiben
ließ, wo er war. Was sagt Ihr dazu, Mutter Akka! Habe ich richtig gedacht?«
»Nein, da hast du nicht richtig gedacht,« sagte Akka. »Man kann über die Adler denken, wie man will, aber sie sind stolzer
und freiheitsliebender als andere Tiere, und es ist sehr unrecht, sie in Gefangenschaft zu halten. Weißt du, was ich dir vorschlagen
will? Sobald du dich ausgeruht hast, reisen wir beide nach dem großen Vogelgefängnis hinunter und befreien Gorgo.«
»Diese Worte habe ich von Euch erwartet, Mutter Akka,« sagte der Junge. »Es gibt welche, die sagen, daß Ihr keine Liebe mehr
für den hättet, den Ihr mit so großer Mühe aufgezogen habt, weil er so lebt, wie ein Adler leben muß. Aber jetzt höre ich,
daß es nicht wahr ist. Nun will ich hingehen und sehen, ob der Gänserich Martin noch nicht aufgewacht ist, wollt Ihr dann
inzwischen dem ein Wort des Dankes sagen, der mich zu Euch zurückgebracht hat, dann findet Ihr ihn wahrscheinlich oben auf
dem Felsenabsatz, da wo Ihr einstmals einen hilflosen jungen Adler gefunden habt.«
XLIII. Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads
Die Krankheit.
In dem Jahr, wo Niels Holgersen mit den Wildgänsen umherflog, war viel die Rede von ein Paar Kindern, einem Jungen und einem
Mädchen, die durch das Land wanderten. Sie waren aus Smaaland, aus dem Bezirk Sunderbo, und sie hatten einmal mit ihren Eltern
und vier Geschwistern in einem kleinen Haus draußen auf einer großen Heide gewohnt. Als die Kinder noch ganz klein waren,
kam einmal spät am Abend eine arme Frau und klopfte an und bat um Obdach. Obwohl die Stube kaum die Menschen fassen konnte,
die dort wohnten, ließen sie sie ein, und die Mutter bereitete ihr ein Lager auf dem Fußboden. Die ganze Nacht hindurch lag
sie da und hustete so arg, daß die Kinder meinten, das ganze Haus bebe, und am Morgen wurde sie so krank, daß sie nicht imstande
war, ihre Wanderung fortzusetzen.
Der Mann und die Frau waren so gut gegen sie wie nur möglich. Sie gaben ihr ihr eigenes Bett und lagen selbst auf dem Fußboden,
und der Mann ging zum Doktor und holte Tropfen für sie. Die ersten Tage war die Kranke wie von Sinnen und Verstand, tat nichts
weiter als fordern und verlangen und hatte kein Wort des Dankes, nach und nach aber taute sie auf und wurde demütig und dankbar.
Schließlich bat und bettelte sie fortwährend, sie möchten sie aus dem Hause hinaustragenauf die Heide, so daß sie da liegen und sterben könne. Als die Leute ihr hierin nicht ihren Willen tun wollten, erzählte
sie ihnen, sie sei im letzten Jahr mit einer Zigeunertruppe umhergezogen. Sie selber stamme nicht von Zigeunern ab, sie sei
die Tochter eines Hofbesitzers, aber sie sei von Hause weggelaufen und mit den Zigeunern umhergezogen. Und nun glaube sie,
daß ein Zigeunerweib, das böse auf sie geworden war, ihr diese Krankheit geschickt habe. Aber nicht genug damit: die Zigeunerin
habe ihr gedroht und gesagt, ebenso schlimm, wie es ihr selbst ergehe, solle es allen ergehen, die ihr Obdach gewährten und
gut gegen sie seien. Daran glaube sie und deshalb bitte sie, daß man sie zum Hause hinausjagen und sich nicht um sie kümmern
möge. Sie wolle kein Unglück über so gute Menschen bringen. Aber die Eltern hatten nicht getan, um was sie sie bat. Es ist
nicht unmöglich, daß sie nicht ein wenig bange geworden waren, aber sie konnten es nicht übers Herz bringen, eine arme, totkranke
Person zur Tür hinauszujagen.
Bald darauf starb sie und dann begann das Unglück. Bisher hatten sie dort im Häuschen nichts als Freude gekannt. Arm waren
sie ja freilich, aber ganz verarmt waren sie denn doch nicht. Der Vater verfertigte Webekämme, und die Mutter und die Kinder
halfen ihm bei der Arbeit Der Vater schnitzte selbst die Kämme, und die Mutter und die große Schwester fügten sie zusammen.
Die kleineren Kinder hobelten die Zähne und schnitzten sie zurecht. Sie arbeiteten vom Morgen bis zum Abend, aber sie waren
immer fröhlich und guter Dinge, namentlich wenn der Vater von der Zeit erzählte, als er in fernenLändern umhergewandert war und Webekämme verkauft
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