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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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und schaute die Eichentüren an, die zu Islingtons Höhle führten. Pläne und Szenarien wirbelten ihm durch den Kopf. Er hatte eigentlich gedacht, er würde wissen, was zu tun sei, wenn er diesen Punkt erreicht hatte, und jetzt stellte er mit Abscheu fest, daß er nicht die geringste Ahnung hatte. Es gab keine Gefallen mehr einzufordern, keine Hebel zu betätigen, keine Knöpfe zu drücken.
    Und so starrte er die Türen an. Vielleicht würde ihm etwas einfallen. Zumindest hatte er das Überraschungsmoment auf seiner Seite.
    Und dann spürte er eine Messerklinge an seiner Kehle, und er hörte Mr. Croups ölige Stimme an seinem Ohr.
    »Ich habe Sie heute schon einmal getötet«, sagte dieser. »Warum sind manche Leute bloß so begriffsstutzig?«
    Richard trug bereits Handschellen und war zwischen zwei Eisenpfeiler gekettet, als Mr. Croup zurückkehrte, der dem Marquis das Messer zwischen die Rippen bohrte.
    Der Engel schaute den Marquis an und schüttelte dann sanft seinen schönen Kopf. »Sie haben mir gesagt, er sei tot«, sagte er mahnend.
    »Ist er auch«, erwiderte Mr. Vandemar.
    »War er«, verbesserte Mr. Croup.
    Die Stimme des Engels war jetzt einen Hauch weniger sanft und weniger liebevoll. »Ich lasse es nicht zu, daß man mich anlügt«, sagte er.
    »Wir lügen nicht«, entgegnete Mr. Croup beleidigt.
    »Doch«, sagte Mr. Vandemar.
    Mr. Croup fuhr sich aufgebracht mit seiner schmutzigen Hand durch das schmierige Haar. »Natürlich lügen wir. Aber nicht dieses Mal.«
    Der Schmerz in Richards Hand machte keine Anstalten, abzuflauen. »Wie können Sie nur so etwas tun?« fragte er zornig. »Sie sind ein Engel.«
    »Was habe ich Ihnen gesagt, Richard?« fragte der Marquis trocken.
    Richard dachte nach. »Sie haben gesagt, auch Luzifer sei ein Engel gewesen.«
    Islington begann zu lachen. »Luzifer? Luzifer war ein Idiot. Er hat es zum Herrscher über nichts und niemanden gebracht.«
    Der Marquis grinste. »Und Sie haben es zum Herrscher über zwei Schurken und einen Raum voller Kerzen gebracht?«
    Der Engel leckte sich die Lippen. »Sie haben mir gesagt, das sei meine Strafe für Atlantis. Ich habe ihnen erklärt, daß ich getan habe, was ich konnte. Die ganze Sache ist …«, er suchte nach dem passenden Wort, »unglücklich gelaufen.«
    »Aber Millionen von Menschen sind dabei umgekommen«, sagte Door.
    Islington faltete die Hände vor der Brust, als ob er Modell für eine Weihnachtskarte stünde. »So etwas kann passieren«, räsonierte er. »Jeden Tag gehen Städte unter.«
    »Und Sie hatten nichts damit zu tun?« fragte der Marquis milde.
    Trotz all der furchterregenden Dinge, die Richard in letzter Zeit erlebt hatte, war dies das Furchterregendste, was er je gesehen hatte: Die heitere Schönheit des Engels bekam Risse; seine Augen blitzten, und wahnsinnig und unbeherrscht schrie er sie an. »Sie hatten es verdient.«
    Es war, als hätte man einen Deckel gelüftet, unter dem sich ein dunkles, sich windendes Etwas verbarg: ein Ort des Irrsinns und der Wut und der Bösartigkeit.
    Es folgte ein Moment des Schweigens. Und dann senkte der Engel den Kopf, hob ihn wieder und sagte leise und bedauernd: »So etwas kommt vor.« Er zeigte auf den Marquis. »Legt ihn in Ketten.«
    Croup und Vandemar befestigten Handschellen an den Handgelenken des Marquis und ketteten sie an die Pfeiler neben Richard fest. Der Engel hatte seine Aufmerksamkeit wieder Door zugewandt. Er ging zu ihr, streckte seine Hand aus, legte sie ihr unters Kinn und hob ihren Kopf, um ihr in die Augen zu schauen. »Deine Familie«, sagte er sanft. »Du kommst aus einer sehr bemerkenswerten Familie. Sehr bemerkenswert.«
    »Warum haben Sie uns dann töten lassen?«
    »Nicht alle«, sagte er. Richard dachte, er meinte Door, doch dann sagte er: »Ich mußte immerhin damit rechnen, daß du doch nicht so gut … funktionieren würdest.«
    Er ließ ihr Kinn los und streichelte ihr mit langen, weißen Fingern übers Gesicht, und er sagte: »Deine Familie kann Türen öffnen. Sie kann Türen schaffen, wo keine waren. Sie kann Türen entriegeln, die verriegelt sind. Türen öffnen, die niemals geöffnet werden sollten.« Er fuhr mit den Fingern ihren Hals entlang, sanft, als ob er sie liebkoste, und dann schloß er die Hand um den Schlüssel.
    »Als ich hier eingesperrt wurde, gaben sie mir die Tür zu meinem Gefängnis. Und sie nahmen den Schlüssel zu der Tür und hinterlegten ihn ebenfalls hier. Eine höchst raffinierte Foltermethode.«
    Er zupfte sacht

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