Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
vergessen hatte, bis es endlich so weit war.
    Old Baileys Publikum beim Witzeerzählen bestand nur aus ein paar eingesperrten Vögeln, die – besonders die Krähen – seine Witze als tiefsinnige philosophische Gleichnisse betrachteten, die ihnen bedeutsame und scharfsinnige Einblicke in das verschafften, was es bedeutete, ein Mensch zu sein, und die ihn daher von Zeit zu Zeit um eine seiner Geschichten baten.
    »Na gut, na gut, na gut«, sagte Old Bailey. »Sagt Bescheid, wenn ihr den schon kennt. Ein Mann kommt in eine Bar. Nein, das war kein Mann. Das ist der Witz daran. ’Tschuldigung. Das war ein Pferd. Ein Pferd … nein … eine Krawatte. Drei Krawatten. Genau. Drei Krawatten kommen in eine Bar.«
    Eine riesige alte Krähe krächzte eine Frage.
    Old Bailey rieb sich das Kinn und zuckte dann mit den Schultern. »Sie tun’s eben. Das ist ein Witz. In dem Witz können sie laufen. Sie bestellt einen Drink für sich und je einen für ihre beiden Freunde. Und der Barmann sagt, wir bedienen hier keine Krawatten. Zu einer der Krawatten. Also. Die geht wieder zu ihren Freunden und sagt, die bedienen hier keine Krawatten. Das ist ein Witz, also geht die mittlere auch hin, sie sind zu dritt, versteht ihr, und die dritte, die bindet sich ganz neu und zieht ein Ende von sich ganz raus. Und sie bestellt einen Drink.«
    Die Krähe krächzte wieder altklug.
    »Drei Drinks. Stimmt. Und der Barmann sagt, hör mal, bist du nicht eine von diesen Krawatten? Und sie sagt, die Krawatte, sie brummelt: Nein, ich bin ein Knoten in Not. Knoten, in (K)Not sein, ohne K – verstanden? Wortspiel. Sehr, sehr lustig.«
    Die Stare machten höfliche Geräusche. Die Krähen nickten und legten den Kopf zur Seite. Dann krächzte die älteste Krähe etwas.
    »Noch einen? Also wißt ihr, ich bin doch keine Witzmaschine. Laßt mich mal überlegen …«
    Ein Geräusch drang aus dem Zelt. Ein tiefes, pulsierendes Geräusch, wie das Schlagen eines fernen Herzens. Old Bailey eilte hinein. Das Geräusch kam aus einer alten Holztruhe, in der Old Bailey die Sachen aufbewahrte, die ihm kostbar waren. Er öffnete die Truhe.
    Das pochende Geräusch wurde sehr viel lauter.
    Das kleine Silberkästchen lag zuoberst auf Old Baileys Schatz. Er streckte seine schwielige Hand aus und nahm es heraus. Ein rotes Licht pulsierte und glimmte rhythmisch darin, wie ein Herzschlag, und schien durch die silberne Filigranarbeit und durch die Ritzen und Halterungen.
    »Er ist in Schwierigkeiten«, sagte Old Bailey.
    Die älteste Krähe krächzte eine Frage.
    »Der Marquis«, sagte Old Bailey. »Er ist in großen Schwierigkeiten.«
    Richard hatte seinen zweiten Teller gerade halb aufgegessen, als Serpentine ihren Stuhl vom Tisch wegschob.
    »Ich glaube, es reicht jetzt mit der Gastfreundschaft«, sagte sie. »Mein Kind, junger Mann, guten Tag. Hunter …« Sie hielt inne. Dann fuhr sie Hunter mit einem klauenähnlichen Finger die Kinnlade entlang. »Hunter, du bist hier immer willkommen.«
    Sie nickte ihnen gebieterisch zu, stand auf und ging davon, gefolgt von dem Butler mit der Wespentaille.
    »Wir sollten jetzt gehen«, sagte Hunter. Sie erhob sich vom Tisch, und Door und Richard folgten ihr, letzterer allerdings eher widerstrebend.
    Sie gingen einen Korridor entlang, der so schmal war, daß nur einer zur Zeit hindurchpaßte. Sie stiegen ein paar Steinstufen empor. Sie überquerten in der Finsternis eine eiserne Brücke, während unter ihnen U-Bahnen hallten. Dann betraten sie etwas, das offenbar ein endloses Netz unterirdischer Katakomben war, die nach Feuchtigkeit und Fäulnis rochen, nach Ziegeln und Steinen und Zeit.
    »Das war also Ihre alte Chefin, hm? Die machte doch einen ganz netten Eindruck«, sagte Richard zu Hunter.
    Hunter sagte nichts.
    Door, die etwas wortkarg gewesen war, sagte: »Wenn auf der Unterseite die Kinder unartig sind, sagt man zu ihnen: ›Wenn du nicht brav bist, kommt Serpentine dich holen.‹«
    »Oh«, sagte Richard. »Und Sie haben für sie gearbeitet, Hunter?«
    »Ich habe für alle Seven Sisters gearbeitet.«
    »Ich dachte, die hätten seit, ach, mindestens dreißig Jahren nicht mehr miteinander gesprochen«, sagte Door.
    »Gut möglich. Aber damals sprachen sie noch miteinander. «
    »Wie alt sind Sie denn?« fragte Door. Richard war froh, daß sie gefragt hatte; er hätte sich das nie getraut.
    »So alt wie meine Zunge«, sagte Hunter, »und ein bißchen älter als meine Zähne.«
    »Wie auch immer«, sagte Richard, und es hörte sich

Weitere Kostenlose Bücher