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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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fragte er.
    »Wenn ich nicht gerade etwas zu essen suche«, lächelte sie, »bin ich Fremdenführerin. Ich kenne jeden Zentimeter der Unterseite.«
    Hunter stand, obwohl Richard hätte schwören können, daß sie auf der anderen Seite der Bude war, neben Lamia. Sie sagte: »Er ist nichts für Sie.«
    Lamia lächelte liebenswürdig. »Das zu beurteilen überlassen Sie besser mir.«
    Richard sagte: »Hunter, das ist Lamia. Sie ist eine Velcro.«
    »Vel-vet«, verbesserte Lamia liebenswürdig.
    »Sie ist Fremdenführerin.«
    »Ich bringe Sie, wohin Sie wollen.«
    Hunter nahm Richard die Tüte mit dem Essen aus der Hand. »Zeit, zurückzugehen«, sagte sie.
    »Also«, sagte Richard. »Wenn wir zu dem Sie-wissenschon gehen, könnte sie uns vielleicht helfen.«
    Hunter sah Richard an. Wenn sie ihn einen Tag vorher so angesehen hätte, hätte er das Thema fallenlassen. Aber das war gestern. »Mal sehen, was Door davon hält«, sagte Richard. »Irgendwelche Anzeichen für den Marquis?«
    »Noch nicht«, sagte Hunter.
    Old Bailey hatte den Leichnam, der an seinem Kinderwagenunterteil festgebunden war wie das Gespenst von Guy Fawkes, die Planke hinabgezerrt. Er zog ihn über die Tower Bridge und vorbei am Tower of London. Er ging weiter zur Haltestelle Tower Hill und machte kurz davor Halt, neben einem großen grauen Mauervorsprung. Es war zwar kein Dach, dachte Old Bailey, aber es würde reichen.
    Es war einer der letzten Überreste der London Wall. Der Überlieferung nach hatte der römische Kaiser Konstantin der Große die Stadtmauer im dritten Jahrhundert n. Chr. bauen lassen, auf Verlangen seiner Mutter (ihr Name war Helena), die aus London stammte und die Nase voll davon hatte, sich ständig von Potentaten und Stadtoberhäuptern aus dem ganzen Reich so nebenbei anhören zu müssen, wie dick die Stadtmauern dort, wo sie herkamen, seien und wie denn die Stadtmauern bei ihr aussehen würden.
    Als die Mauer fertig war, umschloß sie die ganze Stadt; sie war neun Meter hoch und zweieinhalb Meter dick, und sie war zweifelsfrei eine Mauer. Jetzt war sie nicht mehr neun Meter hoch, denn die Erdoberfläche hatte sich seit den Zeiten von Konstantins Mutter gehoben, und sie umschloß die Stadt nicht mehr ganz. Aber es war immer noch ein imposantes Stück Mauer.
    Old Bailey nickte heftig vor sich hin. Er befestigte ein Seil an dem Kinderwagenunterteil und kletterte die Mauer hoch; dann, begleitet von Grunzen und »Au-weia«-Gestöhn, zog er den Marquis hoch bis zum oberen Ende der Mauer.
    Er band den Körper von den Kinderwagenrädern los und legte ihn sanft auf den Rücken, die Arme zu beiden Seiten lagernd. Aus ein paar Wunden quoll noch Flüssigkeit. Er war sehr tot.
    »Du Dummkopf«, flüsterte Old Bailey. »Wieso mußtest du dich bloß umbringen lassen?«
    Der Mond schien hell und klein und hoch in der kalten Nacht, und herbstliche Sternbilder sprenkelten den blauschwarzen Himmel wie der Staub gemahlener Diamanten. Eine Nachtigall flatterte auf die Mauer, untersuchte den Leichnam des Marquis de Carabas und zwitscherte lieblich. »Halt den Schnabel«, sagte Old Bailey barsch. »Ihr Vögel duftet, verdammt noch mal, auch nicht gerade nach Rosen.«
    Sie zwitscherte ihm eine melodische Nachtigallen-Obszönität zu und flog fort in die Nacht.
    Old Bailey griff in seine Tasche und holte die schwarze Ratte heraus, die inzwischen eingeschlafen war. Sie schaute sich verschlafen um und gähnte dann, wobei sie ihre ungeheuer lange Rattenzunge entblößte. »Wenn’s nach mir ginge«, sagte Old Bailey zu der schwarzen Ratte, »wäre ich froh, wenn ich nie wieder etwas riechen müßte.«
    Er setzte sie auf die Steine der London Wall, und sie quiekte ihn an. Old Bailey seufzte. Behutsam nahm er das Silberkästchen aus seiner Tasche, und aus einer Innentasche holte er die Röstgabel.
    Er stellte das Silberkästchen auf de Carabas’ Brust.
    Dann streckte er nervös die Röstgabel aus und öffnete damit den Deckel des Kästchens. Drinnen lag ein Entenei, bläßlich blaugrün im Mondlicht. Old Bailey hob die Röstgabel, kniff die Augen zusammen und zerschlug das Ei.
    Es machte »pop«, als es implodierte.
    Für einen Moment herrschte eine große Ruhe; dann kam der Wind auf. Er hatte keine Richtung, sondern schien irgendwie von überall herzukommen, ein plötzlicher Wirbelsturm. Herbstlaub, Zeitungsseiten, der ganze Bodensatz der Stadt wurde von der Erde hochgefegt und durch die Luft geblasen.
    Der Wind streifte die Oberfläche der Themse und

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