Niemand, Den Du Kennst
zusagt als das Leben, das man jetzt führt.«
»Gäbe es MTV?«, fragte ich und goss mir noch Limonade aus dem kalten Metallkrug nach.
»Nein.«
»Dürfte ich in die Stadt fahren, um zu shoppen und Bücher aus der Bibliothek auszuleihen?«
»Nein, alle Geschäfte sind abgebrannt. Die Bücherei auch. Es gibt nichts. Du müsstest dir deine Kleider selbst aus Vorhängen nähen, wie Scarlett O’Hara. Zur Unterhaltung würde man sich abends am Feuer Geschichten erzählen.«
»Das könnte ich nicht«, sagte ich. »Ich würde verhungern und nackt rumlaufen und am Ende vor Langeweile sterben.«
»Doch, das könntest du«, beharrte Lila. »Du müsstest dich einfach nur mental an das Konzept einer veränderten Realität anpassen, an ein neues Regelsystem.«
»Was ist mit dir?«, fragte ich. »Was, wenn du keine Mathematik mehr betreiben könntest?«
»Das ist doch Unsinn«, sagte sie. »Mathe wird es immer geben. Es ist der grundlegendste Baustein des Universums. Die Menschheit kann ohne MTV und Banana Republic leben und zur Not auch ohne Literatur. Aber nicht ohne Mathematik.«
»Aber nur mal rein theoretisch«, ließ ich nicht locker. »Sagen wir einfach mal, das gehört mit dazu. Keine Mathe für dich. Nie mehr.«
»Das ist was anderes«, sagte sie. »Alles in deinem Leben ist momentan nur ein Hobby, es ist entbehrlich. Aber Mathematik ist meine Berufung. Seine Berufung gibt man nicht auf, egal, was passiert.«
Ich stand auf und ging weg, goss den Rest meiner Limonade auf den Boden. Rasch versickerte sie in der Erde und hinterließ einen dunklen Flecken. »Ich warte im Auto auf dich.«
»Sei doch nicht so empfindlich«, sagte Lila.
»Deine Berufung. Was hat sie dir gebracht? Keine Freunde, so viel ist schon mal klar. Keine Jungs. Mag ja sein, dass ich noch nicht weiß, was ich mit meinem Leben anfangen soll, aber wenigstens werde ich nicht als Jungfrau sterben.« Es war das Gemeinste, was mir in dem Moment einfiel. Später bereute ich meine Worte, aber in dem Moment hatte ich Lila nur verletzen wollen, so wie sie mich verletzt hatte, indem sie mit dem Finger genau auf meine größte Unzulänglichkeit deutete. Für ein Genie war es leicht, den Sinn seines Lebens zu finden. Für uns andere war diese Aufgabe beträchtlich schwieriger.
Danach saß ich im Auto vor dem Haus, bei geöffneten Türen und Billy Idol auf voller Lautstärke auf dem Kassettenrekorder. Hinter meiner Sonnenbrille verborgen beobachtete ich Lila, wie sie Dorothy über die Weide ritt. Sie wirkte völlig natürlich auf dem Pferd, als gehörte sie dorthin. Es dauerte fast zwei Stunden, bis sie zum Auto kam. Irgendwann in der Zwischenzeit war ich eingedöst. Als ich aufwachte, war die Kassette zu Ende, und Lila saß auf dem Fahrersitz und versuchte, den Motor zu starten. »Ich glaube, die Batterie ist leer«, sagte sie.
»Entschuldige.«
»Nein, ich muss mich entschuldigen. Du wirst großartig sein, egal was du auch machst.«
»Danke«, murmelte ich. Ich war noch nicht ganz bereit, ihr zu vergeben, aber ich freute mich über die Entschuldigung. Das Komische an Lila war, dass sie so etwas - wie die Bemerkung über meinen Mangel an Berufung - ohne jede Böswilligkeit
sagen konnte; in ihrer Wahrnehmung stellte sie einfach nur die Tatsache fest. Ihr wäre nie in den Sinn gekommen, dass ihre Ehrlichkeit verletzend sein könnte.
»Im Ernst«, sagte sie. »Das wirst du bestimmt.« Sie drückte meinen Arm. »Ich gehe William suchen und bitte ihn, uns Starthilfe zu geben.«
Ein paar Minuten später kam sie mit einem großen Burschen in einem Overall und einer Giants-Kappe aus dem Haus. Ich war mir nicht sicher, ob der Overall ironisch gemeint war oder nicht. »William, das ist meine Schwester Ellie«, sagte Lila. »Ellie, William.«
Er tippte sich an den Schirm seiner Mütze und murmelte: »Hallo.« Dann ging er seinen Truck und die Starthilfekabel holen. Er schloss sie an, und Lila setzte sich ans Steuer und drehte auf Kommando den Schlüssel in der Zündung. Innerhalb weniger Minuten lief unser Auto wieder. Als William fertig war, stützte er die Unterarme in Lilas offenem Fenster auf, beugte sich ins Auto und sagte: »Sollte reichen, solange du den Motor nicht ausmachst.«
»Er riecht nach Schweiß und Apfelkuchen«, sagte ich zu Lila, als wir auf die Hauptstraße abbogen.
»Du sagst das, als wäre es etwas Gutes«, meinte Lila.
»Ist es das nicht?«
Sie gab keine Antwort.
»Ich glaube, er mag dich«, sagte ich.
»William?« Sie lachte.
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