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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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an einem Dezembermorgen im Jahr 1989 stand mein jüngerer Bruder Will hier vor der Tür. Einen Monat zuvor hatten wir ihn rausgeworfen. Er hatte eine ganze Weile bei uns gewohnt, hatte versucht, clean zu werden, und er war auf einem guten Weg, so gut, dass ich dachte, dieses Mal schafft er es vielleicht wirklich. Dieses Mal reißt er vielleicht ein für alle Mal das Steuer herum. Doch dann hatte er einen Rückfall. Wir hatten ihm schon so viele Chancen gegeben, und damals hatten wir einen Säugling im Haus, und meine Frau Nancy wollte Will verständlicherweise nicht hier haben. Wenn er nüchtern war, dann war er eine Riesenhilfe auf dem Hof - ein harter Arbeiter, gut zu den Tieren, kam mit jedem klar. Während ihrer Schwangerschaft hatte er Nancy so gut behandelt, man hätte glauben können, es wäre sein Baby. Mehrmals am Tag kam er zum Haus, um zu sehen, ob es ihr gut ging, und wenn er seine Arbeit erledigt hatte, machte er
sich im Haus nützlich, damit sie nichts tun musste. Mitten in der Nacht stand er auf, um eine Kuh zu melken - er hatte diese fixe Idee im Kopf, dass sie nur die allerfrischeste Milch trinken sollte; wenn sie länger als eine Stunde im Kühlschrank stand, war sie schon nicht mehr gut genug. ›Sie muss direkt aus dem Euter kommen‹, sagte er immer. ›Das macht das Baby kräftiger.‹ Und bis heute glaube ich, dass da vielleicht etwas dran war; wenn Nancy frische Milch trank, fing die Kleine unweigerlich an, wild zu treten. Wie dem auch sei, das Baby war monatelang Wills einziges Gesprächsthema.
    Dann kam Tally auf die Welt, und Will war einfach unglaublich. Sie litt unter Koliken und schrie sich die ersten sechs Monate ihres Lebens die Seele aus dem Leib, aber ihr Weinen störte ihn nicht im Geringsten. Wenn er draußen auf dem Hof arbeitete, brüllte sie manchmal stundenlang, und nichts, was Nancy tat, half. Doch sobald Will ins Haus kam, wusch er sich schnell und nahm ihr die Kleine ab, blies dem Baby ins Ohr, machte so ein komisches, melodisches Brummgeräusch - er hatte eine so tolle Stimme, das hätten Sie hören sollen, ich fand immer, er hätte eigentlich der Frontmann in seiner Band sein sollen -, und ihr Schreien verwandelte sich in ein Jammern, dann verebbte es zu einem Wimmern, und innerhalb von ein oder zwei Minuten war sie vollkommen still und zufrieden. Ehrlich, ich weiß nicht, wie wir diese ersten Monate ohne ihn überstanden hätten.
    Ungefähr ein Jahr nach Tallys Geburt war Will in Petaluma, um einige Dinge zu erledigen, und traf dort zufällig einen alten Kumpel aus der Musikbranche. Will rief uns aus dem Aufnahmestudio des Mannes an und sagte, er käme zum Abendessen nicht nach Hause. Er kam auch nicht am nächsten oder übernächsten Abend, und als er schließlich eine Woche später wieder hier auftauchte, war er ein totales Wrack -
unrasiert, ungewaschen, mit diesem wohlbekannten paranoiden Blick in den Augen. Als er Tally aus ihrem Laufstall heben wollte, teilte Nancy ihm mit, dass er sich von dem Baby fernzuhalten habe. Er leugnete zwar, einen Rückfall gehabt zu haben, aber es war unübersehbar. Nancy bestand darauf, dass er wieder eine Therapie machte, und ich stellte mich in der Sache hinter sie, aber er weigerte sich. Irgendwann während des Streits steckte er seine Faust dort in die Wand.«
    Ich folgte Franks Zeigefinger mit den Augen. Man konnte immer noch erkennen, wo die Wand ausgebessert und übergestrichen worden war.
    »An dem Punkt forderte Nancy ihn auf, seine Sachen zu packen und zu verschwinden«, sagte Frank. »Ich wollte sie überreden, ihm noch eine Chance zu geben. Ich machte mir Sorgen, dass er ohne uns völlig vor die Hunde gehen würde. Ich fürchtete um sein Leben. Immerhin war er doch mein kleiner Bruder. Ich konnte mich an seine Geburt erinnern. Ich wusste noch, wie wir als Kinder zusammen Ball gespielt hatten, wie ich ihm geholfen hatte, seine erste Gitarre auszusuchen, wie ich ihn aus dem Gefängnis holte, als er zum ersten Mal mit Drogen am Steuer erwischt wurde. Nancy stellte mich unmissverständlich vor die Entscheidung - entweder er oder sie. Zwar liebte ich meinen Bruder abgöttisch, aber ich wollte Nancy und das Baby seinetwegen nicht verlieren. Will bettelte mich an, bleiben zu dürfen, er versprach, es nie wieder zu tun. Aber ich sagte ihm, was ich zu diesem Zeitpunkt ehrlich empfand - dass ich ihn aufgegeben hatte. Bis heute bereue ich diese Worte, aber damals war es die Wahrheit.
    Im Endeffekt musste ich seine Taschen für ihn

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