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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Besser könnte ich ihr heutiges Aussehen nicht simulieren, aber ich hatte das Gefühl, das war nicht gut genug. Hätten wir als Erwachsene mehr Ähnlichkeit miteinander als in unserer Kindheit oder weniger? Wahrscheinlich weniger.
    Schlimmer, als nicht zu wissen, wie sie heute aussähe, war, nicht zu wissen, was für ein Mensch sie geworden wäre. Obwohl Lila eine klare Vorstellung davon hatte, wie sich ihr Leben entwickeln sollte, hätte es unweigerlich einige Überraschungen gegeben. Wie sie auf diese Überraschungen reagiert hätte und welchen Nachhall ihre Reaktionen in den folgenden Jahren ausgelöst hätten, waren Fragen, die ich niemals beantworten könnte. Lila war wie ein unvollendeter Roman - nach zweihundert Seiten, gerade wenn man sich eingelesen hat, stellt man fest, dass der Rest nicht geschrieben wurde. Man wird nie erfahren, wie die Geschichte ausgeht. Übrig bleibt nur ein abruptes und unbefriedigendes Nicht -Ende, alle Erzählstränge hängen lose in der Luft.
    Nach ungefähr einem halben Kilometer kam ich an einer großen Scheune vorbei. Etliche Kühe standen darin aufgereiht,
die Gesichter der Straße zugewandt, die Köpfe unter einer Holzstange durchgesteckt, fraßen sie aus einem langen Trog. Am Ende der Auffahrt auf der rechten Seite lag ein kleiner Kürbisacker, flankiert von roten Schubkarren und ein paar Spielzeuganhängern. Sechs oder sieben Autos standen auf der Wiese. Ich parkte neben einem silbernen Minivan. Eine junge blonde Frau mühte sich damit ab, zwei weinende Kleinkinder aus ihren Autositzen zu befreien. »Das ist ein Bauernhof!«, sagte sie. »Das wird lustig!«
    Ich stieg aus dem Auto und lief an den in einer Reihe aufgestellten Schubkarren vorbei, vorsichtig den Kuhfladen und Pferdeäpfeln ausweichend. Ein kleiner weißer Hund tauchte hinter einem Ballen Maisstroh auf - Maisfeldlabyrinth! , verkündete ein Schild -, gefolgt von einem kleinen Jungen mit einem Stock. Der Hund schoss an mir vorbei, und der Junge blieb keuchend neben mir stehen und fragte: »Hallo, können Sie mir helfen, Rowdy einzufangen?«
    »Klar«, sagte ich, war aber doch erleichtert, als ein kleiner, stämmiger Mann aus dem Labyrinth trat und dem Jungen drohte, ihn nicht die Kuh melken zu lassen, wenn er nicht aufhörte, den Hund zu quälen. Ich konnte die ganze Welt bereisen und mich wie zu Hause fühlen, aber auf einem Bauernhof mit Schubkarren und Kürbissen kam ich mir so deplatziert vor wie im Zauberland von Oz.
    Die Luft war erfüllt vom leichten, erstaunlich angenehmen Duft nach Kuhdung. Aus einem kleinen Schuppen mehrere Hundert Meter entfernt stieg eine Rauchwolke auf. Hinter dem Kürbisacker war unter einem Pavillon ein Tisch aufgebaut. Daneben stand eine Frau mit einem grünen Halstuch und blickte gelangweilt vor sich hin.
    »Tut mir leid«, sagte sie. »Meine Jungs haben sich noch nicht blicken lassen. Traktorfahrten gibt es erst ab zwei.«

    »Kein Problem«, gab ich zurück, während ich mich gleichzeitig wunderte, was genau an mir sie wohl glauben machte, dass ich an Traktorfahrten interessiert sein könnte.
    »Wollen Sie mal probieren?«, fragte sie und schnitt einen Würfel von einem weißen Käse ab. »Das ist unser Sonoma Jack. Wenn Sie damit plus ein bisschen frischem Knoblauch eine Ofenkartoffel überbacken, werden Sie glauben, Sie hätten das Paradies gefunden.«
    Ich kaufte etwas von dem Sonoma Jack und unterhielt mich noch ein paar Minuten mit ihr über Käse, bevor ich mit der Frage herausrückte, die ich eigentlich stellen wollte. »Ist Billy Boudreaux zufällig in der Gegend?«
    »Hier gibt es niemanden, der so heißt. Vielleicht meinen Sie Frank.«
    »Frank?«
    »Den Besitzer. Er muss sich hier irgendwo herumtreiben.« Sie deutete über die Zufahrtstraße auf einige Heuballen, die um eine große braune Kuh herumlagen. »In ungefähr einer Viertelstunde zeigt er da vorne, wie man eine Kuh melkt.«
    »Danke«, sagte ich und machte mich auf den Weg über den Kürbisacker, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift Selbst gebackener Kuchen . Als ich die Straße überquerte, sah ich, dass auf dem Feld vor mir lange Reihen von trocken aussehender Erde aufgehäuft waren. Ich dachte an den Kartoffelacker, den Lila mir an jenem längst vergangenen Tag gezeigt hatte, als ich mit ihr zusammen Dorothy zum letzten Mal besuchte. Ich spürte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube, eine Art inneres Frösteln, das mich dazu veranlasste, mich langsam zu dem Haus umzudrehen, das sich am Ende der

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