Niemand, Den Du Kennst
irgendwelche Hinweise auf den geheimnisvollen Billy Boudreaux zu finden. Doch die Fotos auf dem Kühlschrank zeigten hauptsächlich ein kleines Mädchen - Schnappschüsse von Grundschule, Pfadfinderlager, Schulabschluss und einem Hawaii-Urlaub. Auf einem hoch hängenden Regalbrett stand eine Sammlung
Porzellankeksdosen in Form diverser Disney-Figuren, und an einem Metallgestell über der Kochinsel hing ein Satz Kupfertöpfe und -pfannen.
Frank kam zurück. »Entschuldigen Sie bitte. Das war meine Tochter.«
»Die auf den Bildern?«
»Ja. Sie ist für ein Semester auf den Florida Keys und erforscht die Auswirkungen der Erderwärmung auf Schwämme und Korallenriffe. Die haben da ein Unterwasserlabor namens Aquarius, zwanzig Meter unter der Oberfläche, und sie senden das live via Internet. Das macht süchtig. Jeden Morgen setze ich mich als Erstes an meinen Computer und warte, ob Tally zufällig ins Bild kommt, die Sauerstoffflaschen auf den Rücken geschnallt.«
Er stellte einen Teller mit Brownies auf den Tisch zwischen uns. »Ich hätte nie damit gerechnet, dass sie sich für Meeresbiologie entscheidet«, fuhr er fort. »Ihre Mutter und ich sind durch und durch Landratten. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich nicht einmal schwimmen kann. Aber so sind Kinder eben - sie überraschen einen immer wieder. Haben Sie auch Kinder?« Er warf einen schnellen Blick auf meine linke Hand.
»Noch nicht.«
Ein paar Minuten machten wir Smalltalk, als wüsste keiner von uns beiden, wie er das eigentliche Thema anschneiden soll. Wir sprachen über Tally und den Hof und den früheren Job seiner Frau als Kuratorin einer kleinen Kunstgalerie in der Stadt. Ich fragte ihn nach der großen DVD- und Videosammlung im Nebenraum, worauf er entgegnete, er sei ein großer Filmfan. »Viele davon habe ich auch von meinem Bruder Will geerbt«, sagte er. »Mehr als die Hälfte sind seine. Im Laufe der Jahre habe ich dann die Sammlung ausgebaut.«
»Geerbt?«
»Er braucht sie ja jetzt nicht mehr.«
Ich wartete, ob er das näher erklären würde. Doch er ging nicht weiter darauf ein. Ein paar Momente schwiegen wir beide. Frank knabberte Brownies, als könnte er dadurch seine Nervosität überspielen. Er musste schon vier oder fünf davon gegessen haben, als wir endlich auf den Punkt zu sprechen kamen, um den wir bereits den ganzen Tag herumschlichen.
»Sie sagten vorhin, Sie hätten auf mich gewartet«, fing ich an. »Warum?«
»Eines, was ich im Leben gelernt habe, ist, dass die Vergangenheit immer wieder zum Vorschein kommt. Es lag einfach auf der Hand, dass Sie eines Tages hier auftauchen würden. Sie waren schon einmal hier. Alles ist ein Kreislauf, richtig?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«
Er hob den Blick und sah mich an. Seine Augen waren dunkelbraun, die Pupillen so groß, dass sie beinahe fast schwarz wirkten. Meine Mutter hatte mir einmal erklärt, dass man diesen Mechanismus vor Gericht für sich nutzen könne; da sich die Pupillen in der Dunkelheit weiten und die Geschworenen tendenziell glauben, in den Augen eines aufgerufenen Zeugen ablesen zu können, ob er die Wahrheit sagt, ist ein leicht abgedunkelter Raum von Vorteil. »Es liegt in der menschlichen Natur, Vertrauen zu empfinden, wenn jemand große Pupillen hat«, sagte sie. »Wenn du es für dich behalten kannst, verrate ich dir einen kleinen Trick. Unmittelbar, bevor ich zum Schlussplädoyer vor eine Jury trete, verschleiere ich mir absichtlich die Sicht, indem ich auf meine Notizen starre und so lange schiele, bis mein Blick unscharf wird. Das weitet die Pupillen, sodass ich dann mit großen Augen und grundehrlich aussehend vor den Geschworenen stehe.«
Diese Information war für mich ein interessanter Einblick in das Wesen meiner Mutter gewesen, in den Menschen, zu dem sie in Ausübung ihrer Arbeit werden konnte, aber ich war mir nicht so sicher, ob ich diese Seite an ihr wirklich kennen wollte. Nachdem sie mir das erzählt hatte, kam ich ins Grübeln, ob ich ihren Gefühlen wirklich trauen konnte. Wenn sie mir in die Augen blickte und versicherte, dass sie stolz auf mich sei, sagte sie dann die Wahrheit, oder sagte sie das nur so, um mich von meinem eigenen Wert zu überzeugen und mich dadurch zu einem besseren Menschen zu machen?
»Mögen Sie Geschichten?«, fragte Frank und schob den Brownie-Teller von sich weg.
»Jeder mag doch Geschichten.«
»Dann habe ich eine für Sie.«
Ich atmete tief ein. »Schießen Sie los.«
»Früh
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