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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Zufahrt erhob. Anfangs hatte ich es kaum bemerkt, weil es von einer Gruppe Tannen verdeckt wurde, die beinahe bis zum Dach reichten. Doch als ich jetzt zwischen den Bäumen
hindurchsah, konnte ich die um das ganze Haus herum verlaufende Veranda und die Giebelfenster erkennen, die morschen Anbauten an der Westseite.
    Hier war ich schon einmal gewesen.
     
    Es war mehr ein Instinkt als ein fest formulierter Gedanke, der mich über die Weide zu dem alten Pferd hinzog. Als ich mich dem Tier bis auf drei Meter genähert hatte, hob es den Kopf und betrachtete mich.
    Ich stand seitlich zu ihm, das hatte Lila mir beigebracht. »Pferde haben ein peripheres Sehvermögen«, hatte sie erklärt. »Wenn man von vorne auf sie zugeht, erschrecken sie sich. Und schau ihnen nicht direkt in die Augen, denn das genau machen Raubtiere.«
    »Hallo, altes Mädchen«, rief ich ihm zu und ging sehr langsam weiter. Das Pferd stampfte auf und schlug mit dem Schwanz. Als ich näher kam, machte es ein paar Schritte rückwärts. Ich blieb stehen und wartete eine Minute. Schließlich streckte ich ihm meinen Arm hin. Ich wünschte mir, ich hätte eine Karotte oder einen Apfel anzubieten gehabt.
    Die Stute war alt und hatte einen Senkrücken, ein vorstehendes Gebiss, wässrige Augen und einen weißen Streifen auf der Stirn. Ich trat noch näher, und dieses Mal wich sie nicht zurück. Schon bald stand ich dicht genug neben ihr, um den feuchten Atem auf meinem Arm zu spüren. Ich tätschelte ihr sehr sanft den Kiefer; sie schnaubte und blinzelte.
    »Hallo, du«, sagte ich mit ruhiger Stimme.
    Sie stampfte noch einmal auf, diesmal schwächer, und wedelte wieder mit dem Schwanz. Eine Fliege landete auf ihrem linken Auge. Sie blinzelte, aber die Fliege blieb sitzen. Ich verscheuchte sie und klopfte der Stute sachte auf die Flanken. Sie kam vorsichtig näher. Ihr Fell war dick und glänzend, und
als ich es anfasste, empfand ich zu meinem Erstaunen nicht den Abscheu, den ich als junges Mädchen empfunden hatte, wenn ich ein Pferd berührte. Es hatte diesen typischen Pferdegeruch - Erde und Hafer und Sonne.
    Ein Pferd ist nur ein Pferd, ermahnte ich mich. Sehen für einen Laien nicht alle gleich aus?
    »Wie alt bist du denn?«, fragte ich.
    Hinter mir hörte ich Schritte und drehte mich um. Ein Mann in Jeans und kariertem Flanellhemd kam von der Scheune her auf mich zugelaufen, in der Hand einen kleinen Eimer. »Einunddreißig«, sagte er. »Sie ist alt, aber zäh.« Er stellte sich auf die andere Seite der Stute und strich ihr über den Rücken. »Genau wie ich, was, altes Mädchen?«, sagte er und legte ihr die Arme um den Hals. Dann sah er mich an. »Wir bekommen all unsere Zipperlein gleichzeitig - Arthritis, schlechte Augen, steife Beine, die ganze Litanei. Meine Frau sagt immer, dass ich auch bald reif für mein Gnadenbrot bin.« Er zog eine Steckrübe aus dem Eimer, die er erst mit einem Taschenmesser in kleine Stücke schnitt, bevor er sie der Stute auf der flachen Hand anbot. Sie knabberte langsam.
    »Sie sind bestimmt zum Tag der offenen Tür hier«, sagte er. »Dieses Jahr ist um einiges mehr los als sonst. Muss ein ruhiger Tag in der Stadt sein.«
    »Ist das Ihr Hof?«, fragte ich.
    »Er gehört meiner Frau und mir. Seit 1983. Damals, als wir ihn kauften, war es noch eine Apfelplantage, Kühe gab es nur ein paar. Aber wir haben über die Jahre ausgebaut und 1998 komplett auf Bio umgestellt. Jetzt haben wir neunhundert Stück Vieh. Immer noch klein für einen Milchhof, aber mehr als groß genug, um uns auf Trab zu halten. Ich bin Frank Boudreaux.« Er streckte mir seine Hand entgegen.
    »Ellie.«

    Sein Händedruck war fest, aber nicht zu kräftig, und ich konnte die dicken Schwielen an seinen Fingerwurzeln spüren.
    »Das ist ein wunderschönes Fleckchen Erde«, sagte ich.
    »Das finden wir auch.« Er tätschelte das Pferd, das den Kopf an seine Schulter schmiegte. Dann holte er ein paar Brombeeren aus dem Eimer, die es ihm aus der Hand fraß. »Als meine Frau und ich den Hof kauften, wollten wir eigentlich nur raus aus der Tretmühle, irgendwie über die Runden kommen und für uns eine bessere Lebensqualität schaffen. Nie hätten wir uns all das hier träumen lassen.« Während er sprach, kümmerte er sich um die Stute, untersuchte ihre Ohren, tupfte ihre Augen mit einem feuchten Tuch ab. Schließlich kippte er die restlichen Rüben vor ihr auf den Boden und sagte: »Ich muss jetzt Tabitha melken gehen. Das ist mehr oder weniger die

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