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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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wehgetan.‹ ›Wem?‹, fragte ich ihn. Da sagte er ihren vollen Namen, zum ersten und einzigen Mal: ›Lila Enderlin.‹«
    Darauf lief alles hinaus. Der Mann, der Lila und mir vor all den Jahren Starthilfe bei unserem Auto gegeben hatte, derjenige, den ich als interessante Abwechslung auf dem Bauernhof empfunden hatte, der, der nicht einmal eine knappe Erwähnung in Thorpes Buch verdient hatte - er war der Schlüssel zu allem.
    »Ich erzählte ja vorhin, dass ich ihn in einem Hotel am Strand unterbrachte, nachdem wir ihn vor die Tür gesetzt hatten.«
    Ich nickte. Krampfhaft hielt ich die Kette umklammert, ich konnte spüren, wie sich der Anhänger in meine Haut bohrte.
    »Tja, er fand keine Arbeit. Er versuchte es wirklich, aber niemand wollte ihn einstellen. Das Geld, das ich ihm gegeben hatte, war bald weg, und dann hatte er keine Bleibe mehr, also
wohnte er in seinem Auto. Um an Geld für Benzin und Essen zu kommen, spielte er Gitarre und sang. Er hatte festgestellt, dass die beste Zeit nachts war, wenn die Leute aus den Bars nach Hause fuhren. Dann ging er nach unten in die U-Bahn, sprang über das Drehkreuz, um auf den Bahnsteig Richtung Westen zu gelangen, legte seine Gitarrentasche auf den Boden und spielte. Die Leute waren betrunken, warteten auf ihre Züge und gaben ihm gern etwas, wenn sie ihn hörten. Ich denke, er war gut. Er wusste, wie man Menschen ansprach. An einem guten Abend machte er zwanzig, dreißig Dollar, das reichte für Essen, Benzin, hin und wieder einen Kinobesuch, aber es war nicht genug für ein Hotelzimmer, zumindest für ein annehmbares. Er hielt sich von den Spelunken im Tenderloin fern, weil er wusste, wie leicht man wieder in die Drogenszene abrutschte, und er bemühte sich ehrlich, clean zu bleiben. Er sparte sogar ein bisschen Geld, um ein Studio zu mieten und neue Songs aufzunehmen.
    Er sagte mir, er habe es für Tally getan. Er wollte drei Monate lang sauber bleiben. Wenn er es ganz allein dort draußen schaffen würde, glaubte er, dann könnte er für immer clean bleiben. Nach drei Monaten wollte er zurück auf den Hof kommen und mir beweisen, dass er sich geändert hatte, dass er ein guter Onkel sein konnte.
    Eines Abends steht er also dort unten in der U-Bahn und will gerade zusammenpacken. Er singt sein letztes Lied, ein Stück von Tim Hardin, ›Reason to Believe‹, als er eine hübsche Frau über den Bahnsteig in seine Richtung laufen sieht. Sie geht auf ihn zu, und er erkennt sie. Den Song habe ich einmal sehr geliebt, ›Reason to Believe‹. Aber jetzt erinnert er mich immer an Wills Geschichte.
    Anfangs hält er den Kopf gesenkt, in der Hoffnung, dass sie ihn nicht bemerkt, weil es ihm peinlich ist, so gesehen zu
werden. Doch sie kommt immer näher, bis sie sein Gesicht erkennen kann, und sie hört ihm ein paar Sekunden lang zu, bis sie schließlich sagte: ›William, bist du das?‹«
    Frank hatte eine sehr schlichte Art, eine Geschichte zu erzählen, keine großen Ausschmückungen, keine dramatischen Pausen oder Gesten. Trotzdem konnte ich Lila genau vor mir sehen, in ihrem grünen Cordrock, den schwarzen Converse-Turnschuhen und der Marinejacke, wie sie auf ihren alten Bekannten zugeht, den Kopf leicht zur Seite neigt, noch näher rückt, um einen besseren Blick auf ihn zu bekommen. Und ich konnte sie hören - »William, bist du das?« -, die Freundlichkeit, die sicherlich in ihrer Stimme lag, die Besorgnis und der vollständige Mangel an Voreingenommenheit.
    »Das ist natürlich Ihre Schwester«, fuhr Frank fort. »Und sobald er seine Verlegenheit überwunden hat, merkt er, dass er sich ehrlich freut, sie zu sehen. Sie kommt gerade aus einem Restaurant und ist auf dem Weg nach Hause, sie wirkt traurig, aber er möchte nicht neugierig sein, also fragt er sie nicht, was los ist. Sie unterhalten sich ein paar Minuten lang, und schließlich fragt sie ihn, ob es ihm gut geht. An der Art, wie sie fragt, hört er, dass sie weiß, dass es ihm eigentlich nicht gut geht. Aber er spielt es herunter, nur eine kleine Pechsträhne, sagt er.
    Irgendwann blickte sie hoch zur Anzeigetafel. Es hatte einen Unfall an der Station Montgomery Street gegeben, und es würde mindestens noch eine halbe Stunde dauern, bis ihre Bahn käme. Will bot sich an, mit ihr dort unten auf den Zug zu warten, weil die Station nachts ziemlich unangenehm sein kann, aber sie meinte, sie wolle ihn nicht aufhalten. Da erzählte er ihr, sein Auto stehe nur ein paar Straßen weiter und er könne sie nach

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