Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
Vom Netzwerk:
einziger nennenswerter Besitz. Unsere Großtante hatte ihn ihm hinterlassen, als er noch ein Kind war, und nachdem wir von zu
Hause ausgezogen waren und meine Eltern ihr Haus verkauft hatten, wusste er nicht, wohin damit. Also hob ich ihn für ihn auf. Doch den Schlüssel hatte ich nie gehabt, und über die Jahre, solange Will sein eigenes Leben lebte, hatte ich dieses Möbelstück gern um mich, es half mir, mich ihm nahe zu fühlen. Ich wusste nicht so genau, was er darin aufbewahrte, aber immer mal wieder hatte ich beobachtet, wie er etwas in eins der Fächer steckte: einen Zeitungsausschnitt über die Band, eine Konzertkarte, ein Foto.
    Ich kann nicht genau sagen, warum ich in jener Nacht still dort sitzen blieb, als er ins Zimmer kam. Ich wollte mich eigentlich bemerkbar machen, doch dann zog er den Schlüssel heraus, und ich weiß auch nicht, ich wollte wohl in sein Geheimnis eingeweiht werden, was auch immer es sein mochte. Er holte also etwas aus der kleinen Schublade, dann schob er sie wieder zu. Dann muss ich ein Geräusch gemacht haben, denn er drehte sich erschrocken um.
    In dem Augenblick knipste ich das Licht an und wollte gerade einen Witz darüber machen, dass er mitten in der Nacht durchs Haus schlich, als ich eine Kette in seiner Hand sah.«
    »Was für eine Kette?«, fragte ich, aber ich kannte die Antwort bereits.
    Frank stand auf und ging zum Kamin. Er klappte ein Jadedöschen in Form eines Huhns auf, nahm einen Schlüssel heraus und ging damit zum Sekretär. Dann tat er, was Will an dem Abend vor sechs Jahren getan haben musste. Er rollte die Abdeckung nach oben und öffnete ein Fach nach dem anderen. Schließlich gelangte er zu einem winzigen Kästchen, das so tief im Inneren des Schreibtischs verborgen war, dass ich die Geschicklichkeit des Schreiners bestaunte, der das gebaut hatte. Mit zwei Fingern griff Frank in die Lade und zog etwas
heraus. Seine Hand bedeckte es, sodass ich nichts erkennen konnte, dann kam er zu mir. Ich streckte meine Handfläche aus, und er ließ es in meine Hand gleiten. Es war so kühl, als hätte es tief in der Erde geruht. Es war Lilas Goldkette mit dem Topasanhänger, die Kette, die ich ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
    Ich konnte nichts sagen. Ich konnte kaum atmen.
    »Ihre Kette fehlt«, hatte mein Vater an dem Tag gesagt, als er mich aus Guerneville anrief, um mir mitzuteilen, dass er die Leiche meiner Schwester identifiziert hatte. Hier in Franks Wohnzimmer, Lilas Kette ins Licht haltend, erinnerte ich mich nun, wie ich mich in dem Augenblick gefühlt hatte, während ich den Hörer an mein Ohr hielt und den monotonen Worten meines Vaters lauschte. Woran ich mich erinnerte, war Folgendes: Obwohl ich bei diesem kurzen Telefonat nicht in der Lage war, den Tod meiner Schwester zu begreifen, hatte ich ganz deutlich ein brennendes Gefühl von Ungerechtigkeit und Ekel bei der Vorstellung empfunden, dass jemand ihre Kette gestohlen hatte. Es war nur ein billiges Schmuckstück, gekauft von meinem Babysittergeld, aber sie hatte es so gern gemocht, dass sie es jeden Tag trug. Für Lila hatte sein Wert nichts mit dem Gegenstand selbst zu tun, sondern mit ihrer Liebe zu mir.
    Zwanzig Jahre meines Lebens waren vom Verlust meiner Schwester bestimmt gewesen, des Menschen, den ich am meisten auf der Welt geliebt hatte. Doch jetzt gestattete ich mir, daran zu denken, dass sie mich ebenfalls geliebt hatte, absolut und bedingungslos. Die Heimlichtuerei der letzten Monate, ihr Widerstreben, mir die Wahrheit über Peter McConnell zu sagen, änderte nichts an dieser Tatsache. Ich erkannte in diesem Augenblick, wusste mit Sicherheit, dass sie mir von McConnell, von der ganzen Affäre erzählt hätte -
irgendwann. Es war einfach nur ein Teil der Geschichte, zu dem sie noch nicht gekommen war.
    Ich steckte in diesem Moment fest, unfähig, zu sprechen oder auch nur zu weinen. Es war ein Schock, aber auch eine ungeheure Erleichterung, die Kette in meinem Besitz zu haben. Sie war ein Stück der Geschichte meiner Schwester, ein Stück meiner eigenen.

37
    DANACH SPRUDELTEN DIE FAKTEN, auf die ich zwanzig Jahre lange gewartet hatte, atemlos hervor.
    »Ich musste ihn nicht einmal fragen«, sagte Frank. »Will fing einfach zu erzählen an, ganz von allein. ›Es war ein Unfall‹, beteuerte er wieder und wieder. Ich hatte keine Ahnung, wovon er überhaupt sprach. ›Was war ein Unfall?‹, wollte ich wissen, und er sagte: ›Ich hatte sie doch gern, ich hätte ihr niemals

Weitere Kostenlose Bücher