Niemand, Den Du Kennst
Stühle herum, aber er setzte sich neben mich auf die Sofakante, den Körper mir zugewandt. Er war ein großer, traurig aussehender Mann. Draußen auf der Koppel bei Dorothy hatte er so fröhlich, so unbekümmert gewirkt, aber nun, da wir so nah nebeneinandersaßen, unsere Knie sich beinahe berührten, merkte ich, dass er die Art von Traurigkeit verströmte, die einem Raum die Luft aussaugt. Ich überlegte, wie es wohl war, mit so einem Mann verheiratet zu sein, jeden Morgen mit dieser Traurigkeit im Bett neben sich aufzuwachen, seinen traurigen Mund zu küssen und seine traurige Stimme den eigenen Namen sagen zu hören.
»Ich schätze mal, ich war mir nie ganz schlüssig, was ich zu Ihnen sagen würde, wenn Sie kämen«, sagte Frank. »Ich meine, ich habe mir x-mal ausgemalt, wie ich mit Ihnen genau hier in diesem Raum sitze oder in der Küche oder auf der Veranda, ich versuchte, mir einen Plan zurechtzulegen, wie ich Ihnen erzählen würde, was ich weiß. Aber es klappte einfach nie richtig.«
Immer noch konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie alles zusammenpassen sollte. Ich begriff nicht, wie der Rauswurf seines Bruders aus diesem Haus zu den Ereignissen geführt hatte, die - dessen war ich mir sicher - ich auf die ein oder andere Art und Weise seit zwanzig Jahren zu erfahren suchte.
»Er sah völlig verzweifelt aus«, erzählte Frank. »Er weinte. Mein erster Gedanke war, dass er es dieses Mal mit den Drogen endgültig zu weit getrieben hatte. Doch andererseits hatte ich bei ihm schon mehr Abstürze erlebt, als ich zählen konnte, aber nie zuvor hatte ich ihn so erlebt. Nancy und Tally waren in Arizona bei Nancys Eltern - um die musste ich mir also keine Sorgen machen. Trotzdem hatte ich Bedenken,
ihn ins Haus zu lassen. Wahrscheinlich jagte er mir in dem Augenblick tatsächlich Angst ein, was noch nie vorgekommen war, nicht einmal in den schlimmsten Zeiten.
Also machte ich das Licht auf der Veranda an und trat vor die Tür. Sein Auto stand im Leerlauf in der Auffahrt. Ich sagte ihm, er solle den Motor abschalten, und er tat es. Da erst fiel mir auf, dass der Wagen ganz zerschrammt war, Schlamm auf den Reifen, tote Insekten auf den Scheiben. Wenn es eins auf der Welt gab, um das Will sich wirklich gut kümmerte, dann war das sein Auto. Gott weiß, warum. Es war eine erbärmliche Schrottmühle, ein alter weißer Chevrolet, aber aus irgendeinem Grund liebte er ihn. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass er nie lange eine Wohnung halten konnte, weswegen das Auto eher eine Art Zuhause war. Selbst in seinen wildesten Zeiten schaffte er es noch, den Wagen mit Wasser abzuspritzen und die Scheiben sauber zu halten. Aber nicht in dieser Nacht.
Als er wieder hoch auf die Veranda stieg, fragte ich ihn, was los sei, aber er wollte nichts erzählen. Er sagte nur, er stecke in Schwierigkeiten und brauche eine Dusche und einen Schlafplatz. ›Ich bin clean‹, beteuerte er. ›Seit du mich rausgeworfen hast, habe ich nichts mehr genommen.‹ Ich weiß nicht, woran es lag - vielleicht an seinem Blick oder an seiner Stimme -, aber ich glaubte ihm. Das Unheimliche an der Sache war, dass ich genau wusste, was auch immer er dieses Mal angestellt hatte, es war viel schlimmer als Drogen. Doch letztendlich, schätze ich mal, ist Blut eigentlich immer dicker als Wasser. Er war mein Bruder. Ich konnte ihn nicht einfach fortjagen.
Also ließ ich ihn duschen, gab ihm frische Klamotten und machte uns Eier mit Speck. Er aß, als hätte er seit Tagen nichts bekommen, er muss vier oder fünf Gläser Milch getrunken
haben. Wieder fragte ich ihn, was denn passiert sei, aber machte einfach völlig dicht. Er sagte nur immer, er habe etwas Furchtbares getan und es sei ein Unfall gewesen und er wisse nicht, was tun oder wohin gehen. Wenn er nicht mein Bruder gewesen wäre, dann hätte ich wohl die Polizei gerufen. Aber ich brachte es einfach nicht übers Herz. Aus irgendeinem Grund musste ich an diesen einen Nachmittag denken, als wir noch Kinder waren - er war sieben, ich sechzehn - und ich durch den Wald von der Schule nach Hause lief. Ich hörte Kinder in den Büschen lachen und ging nachsehen. Es waren einige Jungs aus der vierten Klasse, sie hatten Will gegen einen Baum gedrückt und pinkelten ihm auf die Schuhe, seine nagelneuen Turnschuhe, weiß mit roten Streifen, auf die er so stolz war. Obwohl Will groß für sein Alter war, waren sie doch einige Klassen über ihm, und er sah so hilflos aus und so verängstigt, mit
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