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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Mühe hielt er die Tränen zurück. Nie werde ich den Ausdruck in seinen Augen vergessen, als er mich bemerkte, diesen Blick reinsten und grenzenlosen Vertrauens. Ich verlor einfach die Beherrschung, ich knöpfte mir die Jungs richtig vor. Wenige Minuten später stolperten sie weinend, mit blutigen Lippen und blauen Augen davon, und niemand legte sich je wieder mit Will an. Und genau daran musste ich denken, als Will in jener Nacht hier im Haus saß und seine Eier mit Speck aß. Ich dachte, dass ich für ihn verantwortlich war.
    Als Nancy ein paar Tage später nach Hause kam, war Will sauber rasiert und nüchtern und so höflich, wie man sich nur vorstellen kann. Sie ließ ihn bleiben. Danach hatten wir nie wieder Probleme mit ihm. Er arbeitete auf dem Hof, passte auf Tally auf. Um die Zeit war das Mädchen, das Dorothy von Ihrer Schwester gekauft hatte, weggezogen und hatte Dorothy bei uns gelassen. Will kümmerte sich um sie, als wäre sie
sein eigenes Pferd, das er von klein auf großgezogen hätte. Er ritt sie nie, aber er mistete jeden Tag ihren Stall aus, fütterte sie, striegelte sie, spazierte mit ihr zum Fluss, weil sie gern dort trank. Noch nie hatte ich gesehen, dass jemand ein Pferd so hingebungsvoll pflegte. Einige Wochen nachdem er wieder bei uns eingezogen war, saßen wir alle zusammen beim Abendessen, als Nancy in die Runde fragte, was eigentlich mit dem netten Mädchen passiert sei, das Dorothy damals zu uns gebracht hatte. Nancy und ich suchten nach dem Namen, er lag uns beiden auf der Zunge, da sagte Will sehr leise: ›Lila.‹ Obwohl wir noch gar nicht zu essen angefangen hatten, sagte Will, ihm sei nicht gut und er müsse in sein Zimmer gehen.
    Später an dem Abend ging Nancy nach ihm sehen, aber er wollte die Tür nicht aufmachen, und er kam auch die nächsten Tage nicht aus seinem Zimmer. Aus heutiger Sicht finde ich es ziemlich seltsam, dass wir nichts von ihrem Tod wussten. Ich meine, als ich später die Zeitungen aus der Zeit las, sah ich, dass überall davon die Rede gewesen war. Ich kann es mir nur so erklären, dass wir damals so viel um die Ohren hatten, um den Hof zu bewirtschaften, unsere neue Elternrolle zu erfüllen, dass wir uns einfach nicht um die Nachrichten und alles, was außerhalb unserer eigenen kleinen Welt passierte, kümmerten.
    In jedem Fall fiel der Name Ihrer Schwester bis vor sechs Jahren nie mehr. Nancy und Tally schliefen. Ich saß im Wohnzimmer, dort drüben am Kamin, und genoss einfach nur den Klang des knisternden Feuers, als ich Schritte auf der Treppe hörte. Will hatte mich offenbar nicht gesehen, denn sonst hätte er bestimmt nicht getan, was er dann tat.«
    Ich atmete tief durch und schloss die Augen. Am liebsten hätte ich auf Pause gedrückt, mich irgendwie für das Kommende
gewappnet. Die Geschichte würde gleich unwiderruflich umgeschrieben, das war mir bewusst. In wenigen Minuten wäre Thorpes Buch, jenes Buch, das mir als einzige verfügbare Orientierung über Lilas letzte Tage gedient hatte, gegenstandslos geworden. Nachdem es achtzehn Jahre lang die Geschichte für mich bestimmt hatte, würde es seine Macht verlieren. Es war seltsam - Thorpes Schilderung wirkte so viel lebendiger, glaubhafter, jede Tatsache und jede Vermutung untermauert von noch mehr Fakten, jeder Satz so bemüht, den Leser zu überzeugen, dass alles real war, dass alles wirklich genau so passiert war. Und doch ahnte ich tief in mir, dass diese neue Geschichte - so anders, so einfach und schlicht - die echte Wahrheit war.
    Ich beugte mich vor. Ich wollte es wissen, und dann auch wieder nicht. Es war wie damals als Kinder, wenn Lila und ich nach dem Abendessen auf den Schoß meines Vaters kletterten und er uns die Geschichte vom goldenen Arm erzählte. »Gib mir meinen goldenen Arm zurück«, jammerte er mit tiefer, bebender Stimme, woraufhin Lila und ich in bangem Entzücken quiekten und auf den unausweichlichen Moment warteten, wenn er die Hände wie Klauen hoch in die Luft hob, jeden von uns am Arm packte und rief: »Hab dich!« Früher dachte ich immer, das wäre die Lieblingsgespenstergeschichte meines Vaters, doch als ich älter wurde, gestand er mir, dass es die einzige war, die er kannte.
    »Er ging zu diesem Schreibtisch dort drüben« - Frank deutete auf einen antiken Eichensekretär - »nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete eine Reihe von immer kleineren Fächern, bis er bei dem anlangte, was er suchte. Abgesehen von dem Auto war dieser Sekretär sein

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