Niemand, Den Du Kennst
machen?«
»Lächeln. Du musst nicht für mich lächeln.«
Sie senkte den Blick auf die Bettdecke, mit der freien Hand rubbelte sie an einem Fleck getrocknetem rotem Nagellack, der seit Monaten nicht abging. »Dagegen hilft Fensterreiniger.«
»Mom?«
Endlich sah sie auf und sagte: »Das tue ich nicht für dich, meine Süße. Ich habe irgendwo gelesen, dass, wenn man sich zum Lächeln zwingt, es tatsächlich die Laune hebt.«
»Und, klappt es?«
»Noch nicht.«
Ich hatte eine Idee. »Du und Dad solltet Urlaub machen.«
Sie sah mich an, als hätte ich ihr vorgeschlagen, ihren Job zu kündigen und in eine Kommune zu ziehen. »Warum denn, um Himmels willen?«
»Vielleicht würde es helfen.«
Ich fragte mich, ob sie mich wirklich ganz verstand. Im Laufe der vergangenen eineinhalb Jahre hatten meine Eltern sich so voneinander entfernt, dass ich mir Sorgen um ihre Ehe machte. Das war ein Gedanke, den ich nie gehabt hatte, bevor Lila starb - ich hatte kein anderes Ehepaar gekannt, das eine stabilere Beziehung zu haben, sich seiner Liebe sicherer zu sein schien. Aber in letzter Zeit bewegten sie sich im Haus wie Mitbewohner, die sich scheuten, in den Raum des anderen
einzudringen. Ich konnte mich gar nicht erinnern, wann ich sie zuletzt einander berühren gesehen hatte.
Jetzt strich sie mir über das Haar. »Wir könnten nach Timbuktu fahren, das würde nichts ändern, ich würde sie immer noch so sehr vermissen, dass ich kaum atmen kann.«
In diesem Augenblick wünschte ich mir, mit Lila tauschen zu können. Ich stellte mir ein Szenario vor, in dem der Kummer meiner Mutter weniger groß wäre, leichter zu bewältigen, ein Szenario, in dem sie nicht ihre brillante ältere Tochter verloren hatte. Sicherlich wäre die Genesung schneller vonstatten gegangen, wäre der Zusammenbruch weniger endgültig gewesen, wenn sie nur mich verloren hätte. Vielleicht wäre die Familie näher zusammengerückt, statt sich immer weiter voneinander zu entfernen.
Sie umarmte mich, stand auf und schloss die Tür hinter sich.
Es war vier Uhr morgens, als ich das Buch zu Ende gelesen hatte. Ich versteckte es unter dem Bett und machte das Licht aus.
Was ich für Andrew Thorpe empfand, konnte man nur als Ekel beschreiben. In den langen Passagen über Lila - Passagen, in denen meine Schwester als Mathegenie dargestellt wurde, als Einzelgängerin, als etwas komischer Kauz, als Spätzünderin - kam deutlich zum Ausdruck, dass Thorpe mich benutzt hatte. Dumm, blind hatte ich ihm Lila direkt ausgeliefert.
Ungeachtet dessen war er in Bezug auf den Mord selbst sehr überzeugend. Am Ende des Buches angelangt, fühlte ich mich genötigt, seine Version der Geschichte zu glauben. Seine Beweisführung war nicht wasserdicht. Es gab keine forensischen Indizien, und so manche Frage blieb unbeantwortet. Auf keinen Fall würde Thorpes Theorie Lilas eigener rigoroser
Prüfung standhalten - dem Standard des absoluten Beweises. Sie würde vermutlich darüber spötteln, es als das bezeichnen, was es in Wahrheit war: reine Vermutung. Dennoch schien Thorpes Hauptverdächtiger - Peter McConnell - eine absolut einleuchtende Schlussfolgerung.
7
»WIR LEBEN UNSER LEBEN als Geschichte«, sagte Thorpe eines Nachmittags, einige Monate nach Lilas Tod. »Im Laufe der Zeit konstruieren wir Tausende und Abertausende von kleinen Fabeln, um unsere Tage zu verarbeiten und uns einzuprägen, und diese Kurzerzählungen summieren sich zu der größeren Geschichte, der Art und Weise, wie wir uns in der Welt sehen.« Er sprach mit seinem Vortrag, der sich vage auf Kunderas Buch vom Lachen und Vergessen stützte, den gesamten Kurs an, doch ich wusste, dass seine Worte eigentlich an mich gerichtet waren.
Im Rückblick war leicht zu erkennen, dass die Hauptgeschichte meines eigenen Lebens der Tod meiner Schwester war. Andrew Thorpes Buch hatte großen Einfluss darauf genommen, wie ich diese Geschichte konstruierte. Ich war zwanzig Jahre alt, als ich Mord in der Bucht las, jung genug, um zu glauben, dass die Dinge, die er über den Mord an Lila sagte, und die Dinge, die er über mich sagte, wahr waren.
In der Welt der Mathematik , schrieb er, hatte Lila ihren Platz gefunden. Als Lila ermordet wurde, musste Ellie den ihren noch finden. Das Gefühl von Zugehörigkeit und Orientierung, das Lilas kurzes Leben vereinfacht hatte, entzog sich Ellie weiterhin.
Es gab Zeiten, in denen ich mich fragte, ob Thorpe dadurch,
dass er meine Unzulänglichkeiten unerbittlich detailliert
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