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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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verletzt, dass sie mir so gar nichts davon erzählen wollte, als es endlich jemanden in ihrem Leben gab.
    »Es war im vierten Jahr meiner Promotion«, berichtete McConnell. »Ich liebte es, Vater zu sein, aber es forderte auch seinen Tribut; mit meiner Dissertation kam ich viel langsamer voran als erwartet, und ich hatte bereits seit geraumer Zeit versucht, mich an einem wissenschaftlichen Beitrag zu beteiligen, der keine Fortschritte machte.«
    McConnells Stimme in der stillen Nacht war tief, eine weiche und beruhigende Stimme. Ich stellte mir Lila vor, wie sie mit ihm am letzten Abend ihres Lebens in einer der stillen Nischen in Sam’s Grill saß. War seine Stimme die letzte, die sie je gehört hatte, oder gab es da noch einen anderen, jemanden, den ich mir nie vorzustellen gestattet hatte - einen Taxifahrer, einen Fremden auf der Straße?
    Eine Zahl aus Thorpes Buch hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt: 23 370. Es war die Anzahl von Menschen, die 1989, in Lilas Todesjahr, in den USA ermordet wurden. Nur 13 , 5 Prozent der Mordopfer kennen ihren Angreifer nicht , schrieb Thorpe. Mord geschieht selten willkürlich . Ich weiß noch, wie ich dachte, dass seine Wortwahl fehlerhaft war. An 13,5 Prozent war überhaupt nichts selten. 13,5 Prozent von 23 370 waren sogar eine sehr große Zahl. Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, wie der Absatz verfasst war, aber was sich mir eingeprägt hatte, war, dass Thorpe Lila einer tragisch schlechten Menschenkenntnis beschuldigte. Und mich hatte wütend gemacht, wie er die Worte manipulierte, als trüge Lila eine Mitverantwortung an ihrem eigenen Tod, als wären nur die Opfer »willkürlicher« Gewalttaten wirklich unschuldig.
    »Und dann kam Lila«, erzählte McConnell jetzt. »Ich werde nie den Tag vergessen, als sie ins Büro des Stanford Journal
of Mathematics marschierte. Sie trug so ein orangefarbenes Kleid und lila Turnschuhe, und ihre Haare sahen aus, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gekommen.«
    »An das Kleid kann ich mich erinnern«, sagte ich, überrascht, einen Anteil an dieser Geschichte zu haben, meine Erinnerung seiner hinzuzufügen. »Sie hatte es selbst genäht. Sie nähte all ihre Kleider selbst. Ohne vorgefertigte Schnittmuster; sie nahm einfach ihre Maße und skizzierte das Kleid auf einem Block, und dann stellte sie beim Nähen ihre Berechungen an.«
    »Ihr Aufzug fiel vollkommen aus dem Rahmen.« Mein Blick war geradeaus gerichtet, aber ich konnte die leichte Veränderung in McConnells Stimme hören und wusste, dass er lächelte. Der Gedanke war merkwürdig, dass der Mann neben mir vertraut mit meiner Schwester gewesen, sogar von ihr geliebt worden war. Ich konnte nicht leugnen, dass etwas an ihm eine starke Anziehung ausübte - sein Tonfall, sein direkter und kompromissloser Blick. Er strahlte etwas unverkennbar Sinnliches aus, was ich damals, während meiner Spionageausflüge ins Enrico’s, nicht bemerkt hatte.
    »Sie sah wunderschön aus«, fuhr er fort. »Der Herausgeber der Zeitschrift, ein schwerfälliger alter Kerl namens Bruce, sah sie an und fragte, wie er ihr helfen könne. Offenbar glaubte er, sie wäre aus Versehen bei ihm gelandet. Lila drückte ihm einen Schnellhefter in die Hand. Es war ein Artikel über die numerische Auswertung spezieller Funktionen. Sie wollte ihn einreichen.
    Bruce sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Dazu muss man wissen, dass das Stanford Journal die Arbeiten hochangesehener Mathematiker veröffentlichte. Und da kam einfach diese zerzauste, wunderhübsche, sehr junge Frau in sein Büro spaziert, als gehörte sie dorthin, und forderte uns
auf, ihren Artikel zu drucken. Das war unerhört. Ich verliebte mich auf der Stelle in sie. Ich nahm ihren Artikel mit nach Hause und war überwältigt. Noch am selben Abend rief ich Lila an und bat sie um ein Treffen am nächsten Tag zum Mittagessen.«
    Wir waren an einer weiteren Kreuzung angelangt. Ohne jeden Hinweis von mir bog McConnell nach rechts ab auf meine pensión zu. Ich fragte mich, was ich tun würde, wenn er mich direkt dorthin führte. Würde mich das wieder zur Besinnung bringen?
    Eine Minute später standen wir vor dem kleinen gelben, von großen Bäumen mit knorrigen, verdrehten Stämmen umstandenen Haus. Blinkende weiße Weihnachtslichterketten hingen von den Zweigen, durch ein dickes orangefarbenes Verlängerungskabel mit dem Hotel verbunden. »Da wären wir«, sagte er.
    Wieder machte ich einen Schritt zurück. »Woher wussten Sie

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