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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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mich etwas entspannt hatte. Aber ich fragte mich, ob das zur Begabung dieses Mannes gehörte, zu seinem Charme; vielleicht hatte sich Lila in den Stunden vor ihrem Tod ganz genauso gefühlt.
    »Ich war schon beinahe sieben Monate von meinem Sohn getrennt, als mein Betreuer von der Uni Stanford mir von seiner Hütte in Nicaragua erzählte«, fuhr McConnell fort. »Er hatte sie einige Jahre zuvor gekauft, sie aber kaum je genutzt. Ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte, und ich hatte auch nichts zu verlieren, also kam ich her. Ich habe mich hier sofort wohlgefühlt. Es war ein Ort, an dem man einen Neuanfang machen konnte. Seitdem lebe ich hier.«

    »Was ist mit Arbeit?«
    »Ich erledige Aufträge für ein Ingenieurbüro in San Marcos - Kalkulationen, Berechnung von Traglasten für Brücken, solche Dinge. Ich mache das von Hand, mit Papier und Stift. Es ist eine sehr befriedigende Arbeitsweise. Man kann sich kaum vorstellen, wie viel Zeit in eine einzige umfangreiche Berechnung fließen kann. Ganze Tage und Nächte vergehen, in denen ich mein Haus kaum verlasse - wobei die Bezeichnung Haus vielleicht etwas hoch gegriffen ist. So viel wurde von meinem Leben abgezogen, als Lila starb, ich dachte, es könnte nie wieder etwas dazu addiert werden, was den Verlust ausgliche. Und das stimmt sicherlich auch. Doch in den letzten Jahren habe ich mich bemüht, meinen Umzug nach Nicaragua als Geschenk zu begreifen. Bevor ich herkam, habe ich mich weitgehend auf Computer verlassen. Ohne sie fühle ich jetzt eine Verwandtschaft mit Ramanujan, Gauß, selbst Archimedes. Das soll natürlich nicht heißen, dass ich mich mit diesen Männern vergleichen möchte, nur dass die Annäherung an die Mathematik mit nichts als den grundlegendsten Werkzeugen - dem eigenen Verstand, einem leeren Blatt, einem Stift - für mich etwas Reines hat.«
    Er schaute auf die Rumflasche, und ich füllte sein Glas erneut. Dieses Mal starrte er es einige Sekunden lang an und drehte es dabei sanft mit der Hand, sodass die braune Flüssigkeit im Glas kreiste und die Bewegung des Rums im trübgelben Schein der Lampe etwas beinahe Hypnotisches bekam. McConnell war von Anfang an die schlüssigste Option gewesen, der nächstliegende Verdächtige, doch allmählich bezweifelte ich, dass er einen Stein auf Lilas Kopf hätte schlagen können, wie Thorpe spekuliert hatte. Die Wunde war zu groß, die Todesart und alles Folgende zu unordentlich für einen Mann von solch sichtbarer Präzision: das Blut auf ihrem
Haar, ihr nur teilweise von Laub bedeckter Körper. Ich stellte mir vor, dass McConnell ein Mann war, der, selbst unter extremen Umständen, alles sorgfältig erledigen würde. Da waren zum einen die Knöpfe an ihrer Bluse - sicherlich hätte er, wenn er die Tat begangen hätte, die Bluse nicht einfach so aufklaffend gelassen. Und noch etwas: die billige Topaskette, die sie von mir bekommen hatte, fehlte. Aber der Opalring, der ein Geschenk von McConnell gewesen sein musste, steckte noch an ihrem Finger, als sie gefunden wurde. Wenn McConnell es tatsächlich getan hätte, warum sollte er dann die Kette nehmen und den Ring nicht? Dieses Detail hatte mich, genau wie Thorpes Theorie von Lilas Drohung, McConnells Frau von der Affäre zu erzählen, immer gestört. Doch Thorpes Schilderung war so überzeugend gewesen und weithin als Wahrheit akzeptiert, dass ich meinen eigenen Bedenken nicht getraut hatte.
    »Das Komische ist ja«, sagte McConnell, »wenn Sie mir eine Brücke beschreiben, die Sie bauen wollen - wo Sie sie bauen, was für Materialien Sie benutzen wollen, die Tiefe des Flusses -, dann kann ich Ihnen exakt, auf den winzigsten Bruchteil genau sagen, wie viel Traglast sie aushalten kann. Aber ich war nie in der Lage, dieselbe Exaktheit auf mein Leben anzuwenden. Vielleicht schätzte ich es falsch ein, wie viel Margaret hätte ertragen können, bevor sie mir meinen Sohn weggenommen hätte. Ich zählte einfach auf ihre … nein, nicht auf ihre Liebe, aber auf ihren Wunsch nach einem ganz bestimmten Leben. Ich glaubte, es gäbe nichts, worüber sie dafür nicht hinwegsehen würde.«
    Ich lauschte auf einen unechten Ton in seiner Stimme, suchte in Gesicht und Händen nach einem Zucken oder einer unbewussten Geste, die verraten könnte, dass er log. Ein Teil von mir wollte alles glauben, was er sagte. Wenn Lila ihn
wirklich geliebt hatte - und ich sah nun, wie das möglich gewesen wäre, erkannte seinen Charme -, dann sollte er nicht derjenige gewesen sein,

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