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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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ich hier. Morgen findet eine Verkostung statt, und am Tag darauf fliege ich zurück nach San Francisco. Wenn ich diese Plantage besuche, wohne ich immer hier, und jedes Mal wartet eine Flasche Rum auf mich, wenn ich ankomme.« Ich nahm auch einen Schluck, spürte die Wärme meine Kehle hinuntergleiten.
    »Ein Mathematiker ist eine Maschine, die Kaffee in Theoreme umwandelt«, sagte McConnell. Dann, als er meinen verwirrten Blick bemerkte: »Paul Erdös. Es steckt ein Körnchen Wahrheit darin. Ich komme auf neun bis zehn Tassen pro Tag.«
    »Das Buch.« Ich warf einen Blick auf den schmalen Band auf dem Boden. » Naturgeschichte einer Kerze . Was ist das?«
    »Das ist eine Vorlesungsreihe, die um Weihnachten 1860 an der Royal Institution in London gehalten wurde. Faraday schreibt darin, Kerzen seien ›die offene Tür, durch die man am leichtesten ins Reich der Naturphilosophie eintritt‹. Die Vorlesungen waren eigentlich an Schulkinder gerichtet, doch es steckt eine Menge mehr darin. Ein sehr guter Essay ist insofern wie ein mathematischer Beweis, als seine Argumentation elegant, seine Wahrheit universal ist.« Er nahm noch einen Schluck Rum.
    »Lesen Sie viel?«, fragte ich.
    »Es vertreibt einem die Zeit. Wie Ihnen vermutlich aufgefallen ist, ist das eine eher stille kleine Ecke des Universums.«
    »Sie wollten mir erzählen, warum Sie in Diriomo sind.«
    »Nachdem meine Frau mich vor die Tür gesetzt hatte, wusste ich nicht, wohin. Nach San Francisco konnte ich nicht zurück, weil mein Ruf dort ruiniert war, ich war ein Paria. Nach Stanford konnte ich auch nicht mehr. Einige Monate ließ ich mich durch Ohio treiben, arbeitete als Anstreicher.
Ich hoffte, wenn ich in der Gegend bliebe, könnte ich vielleicht hin und wieder Thomas sehen. Doch Margaret überzeugte einen Richter davon, ihr das alleinige Sorgerecht zuzusprechen, ich bekam nicht einmal ein Besuchsrecht zuerkannt - alles wegen des Buches. Ich war am Boden zerstört. Zuerst verlor ich Lila, dann meinen Sohn. Meine Arbeit war zum Stillstand gekommen und meine Karriere vorbei. An diesem Punkt fiel es mir schwer, einen Grund zum Weiterleben zu finden.«
    »Und warum haben Sie es trotzdem getan?«
    »Haben Sie schon mal von Alan Turing gehört?«, fragte er.
    »Der Name kommt mir bekannt vor.«
    »Er entwickelte den Turing-Test, um die Fähigkeit einer Maschine zur Demonstration von Intelligenz zu bestimmen. Eine menschliche Testperson führt simultan in einer natürlichen Sprache eine Unterhaltung mit einer Maschine und mit einem anderen Menschen.«
    Er muss die Verwirrung auf meiner Miene gelesen haben, denn er lächelte und sagte: »Verzeihung. Genau deshalb wäre ich ein furchtbarer Lehrer. Wenn ich spreche, folge ich immer dem Pfad, den meine Gedankengänge gerade nehmen, aber ich vergesse, die nötigen Verknüpfungen für meinen Gesprächspartner herzustellen. Bei Lila hatte ich immer das Gefühl, dass sie mir folgte, wenn ich vom Thema abschweifte. Ich musste nie die einzelnen Schritte zu einem Beweis aufschreiben; sie konnte die Zusammenhänge selbst herstellen, als läse sie meine Gedanken. Sehen Sie, jetzt habe ich es schon wieder getan.«
    Ich goss ihm noch einen Schluck ein. Ohne zu zögern, trank er ihn aus.
    »Turing brachte sich um, indem er von einem mit Cyanid präparierten Apfel abbiss«, erzählte er, »nur wenige Tage vor
seinem zweiundvierzigsten Geburtstag. Das war, nachdem er vor Gericht wegen Homosexualität belangt worden war. Was mich wieder zum Ausgangspunkt führt: Ich habe Selbstmord nie als gangbaren Weg betrachtet, außer in wirklich extremen Fällen - mit extrem meine ich, von der Gefangennahme durch den Feind bedroht zu sein oder schreckliche körperliche Schmerzen aufgrund einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Obwohl ich keinen unmittelbaren Grund zum Weiterleben erkennen konnte, war nicht weiterzuleben keine wissenschaftlich stichhaltige Option. Lila war zwar für immer fort, aber es gab noch die Möglichkeit, dass ich wieder mit Thomas vereint würde, oder dass ich, trotz meiner Loslösung von der mathematischen Gemeinschaft, eine bedeutende wissenschaftliche Entdeckung machen würde.«
    Im Flur war ein Geräusch zu hören, direkt vor meinem Zimmer. McConnell nahm es auch wahr. Er hörte kurz auf zu sprechen, beide blickten wir zur Tür.
    »Das ist José«, sagte ich. »Wahrscheinlich will er sich nur vergewissern, dass bei mir alles in Ordnung ist.«
    Als Josés Schritte sich wieder entfernten, stellte ich fest, dass ich

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