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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Street und kaufte mir einen kleinen Kaffee bei Tully’s. Es war meine Starthilfe-Tasse. Mit dem ersten Schluck spürte ich meinen Kopf wieder klarer werden. Ich fand einen freien Tisch in der Ecke und schlug Lilas Notizbuch auf. Auf der dritten Seite hatte sie eine Liste unter der Überschrift Ungelöst. Unlösbar? zusammengestellt.
Der erste Punkt, die Goldbachsche Vermutung, nahm mehr als die Hälfte des Buches ein, die restlichen Seiten waren den übrigen Problemen gewidmet. Die zweite Nennung auf der Liste war die Poincaré-Vermutung: Jede einfach zusammenhängende kompakte unberandete 3 -dimensionale Mannigfaltigkeit ist homöomorph zur 3 -Sphäre.
    Ich starrte diese Formulierung lange an, ohne daraus schlau zu werden. Es verblüffte mich, dass Lila - mit der ich dieselben Gene teilte, dieselben liebevollen Eltern, dieselben guten Schulen, dieselben Sommerwochenenden am Russian River - diesen Satz begreifen konnte.
    Obwohl sich mir die Bedeutung der Poincaré-Vermutung entzog, erinnerte ich mich aus einem bestimmten Grund an den Mann selbst: Auf unserer Rucksackreise durch Europa waren Lila und ich am Friedhof Montparnasse in Paris gewesen, auf dem Poincaré liegt. Neben seinem Grab erzählte sie mir seine Lebensgeschichte. Poincaré war auch bekannt als der letzte Universalist; er leistete Außergewöhnliches auf jedem Gebiet der Mathematik - sowohl in der reinen als auch in der angewandten -, das zu seinen Lebzeiten existierte. Was aber mein Interesse geweckt hatte, war die Geschichte seiner Aussage zugunsten Alfred Dreyfus’, jenes jüdischen Offiziers, der von antisemitischen Kameraden des Landesverrats beschuldigt und 1895 zu lebenslänglicher Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt wurde. Poincarés Angriff auf die wissenschaftlich nicht haltbaren Behauptungen der Ankläger Dreyfus’ trugen maßgeblich zu dessen Entlastung bei.
    Lila legte ein Blatt Papier auf Poincarés Grabstein und rubbelte mit einem Bleistift darüber. Dann half sie mir, eine andere Ruhestätte auf dem Friedhofsplan zu lokalisieren: Simone de Beauvoir. De Beauvoir war erst ein Jahr zuvor im selben Grab bestattet worden wie Sartre. Vor dem elfenbeinfarbenen
Gedenkstein mit seiner schlichten Doppelinschrift - Namen und Daten - türmten sich Blumen und Geschenke. Ich hatte Das andere Geschlecht und Memoiren einer Tochter aus gutem Hause gelesen, doch die einzigen Zeilen, die ich mir in diesem Augenblick ins Gedächtnis rufen konnte, waren die von Lloyd Cole and the Commotions in ihrem Song »Rattlesnakes«: She looks like Eva Marie Saint in On the Waterfront / She reads Simone de Beauvoir in her American circumstance.
    »Kannst du dir vorstellen, so sehr zu lieben, dass man deinen Körper auf die Knochen deines Geliebten werfen soll?«, fragte ich.
    Lila dachte nicht eine Sekunde über die Frage nach. »Nein.« Sie musste das nicht weiter ausführen. Ich kannte ihre Einstellung zu Liebe und Ehe: Sie stünden nur ihrer Arbeit im Weg.
    Man könnte anführen, dass wahrer Universalismus heutzutage nicht mehr möglich ist. Mit Sicherheit könnte nicht einmal Poincaré mit den ganzen Spezialbereichen seines Fachs, wie sie ein Jahrhundert nach seinem Tod existierten, Schritt halten. Doch ein Teil von mir wollte auch gerne glauben, dass Lila das Zeug dazu gehabt hätte, sich dem Universalismus zumindest anzunähern. Ich war überzeugt, sie wäre, wenn nicht die große Mathematikerin ihrer Zeit, dann doch bestimmt eine der ganz großen geworden. Und genau darin schien die krasse Schieflage der kosmischen Zahlen zu bestehen, das muss meinen Eltern im Laufe der Jahre tausendmal durch den Kopf gegangen sein, auch wenn sie es nie, nie laut aussprechen würden: Sie hatten zwei Töchter. Mich aus der Gleichung zu subtrahieren hätte die Welt einiger brauchbarer Verkostungsnotizen, eines gut ausgebildeten Gaumens, diverser Artikel für Fachzeitschriften über die schwerer fassbaren Eigenschaften der besten Kaffeesorten der Welt beraubt.
Doch so kam es nicht. Die Subtraktion, die stattfand, stellte sich als viel grausamer heraus. Wer weiß, was Lila alles entdeckt, welche Rätsel sie gelöst, welch elegante Beweise sie geführt hätte, wäre ihr mehr Zeit geblieben? Im Unterschied zu mir war sie bereit, wichtige Arbeit zu leisten, Arbeit mit bedeutsamen Auswirkungen.
    Im Nachhinein war für mich leicht zu verstehen, was ich in dem Jahr unmittelbar nach Lilas Tod getan hatte, als ich immer wieder betrunken mit irgendeinem Kerl aus der Uni oder von

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