Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
Vom Netzwerk:
einer Party im Bett landete. Ich versuchte nicht nur, zu vergessen, was Lila zugestoßen war. Ich versuchte, zu vergessen, dass ich das Ergebnis einer deformierten Mathematik war, die das Leben eines Genies beendet hatte, während ihrer Schwester, die in jeder Hinsicht durchschnittlich war, gestattet wurde, weiterzuleben.
    »Es ist, als würde ich durch ein Haus wandern«, sagte Lila immer, um ihr häufiges Schweigen zu erklären. »Ich gehe zufällig in ein anderes Zimmer, und die Tür fällt hinter mir zu. Alles andere verschwindet irgendwie.«
    Manchmal fühlte ich mich, als wäre ich vor zwanzig Jahren in das falsche Zimmer gegangen und die Tür wäre hinter mir zugefallen. Auf der einen Seite der Tür befand sich mein Parallelleben, das, was ich eigentlich hätte führen sollen. Auf der anderen Seite, in dem Zimmer, in dem ich festsaß, fand das Leben statt, in das ich nach Lilas Tod hineingestolpert war. Ich wollte zurück zu meinem Ausgangspunkt, bevor ich die Schwelle überschritten hatte, doch die Tür war so fest verschlossen, dass es keinen Weg nach draußen gab.
    Wie letztlich alle Verurteilten wurde Dreyfus schuldig gesprochen, weil die Richter eine bestimmte Geschichte über ihn glaubten. Poincaré stellte eine andere Version der Geschichte vor und veränderte damit den Verlauf von Dreyfus’
Leben. Gab es auch für Lila eine andere Geschichte, eine, die den Verlauf von McConnells Leben verändern könnte, und vielleicht auch den meines eigenen?
    Ich hatte niemals etwas Außergewöhnliches getan, in achtunddreißig Jahren nicht. Oft hatte ich mir gesagt, dass es eine Frage der Umstände war - dass ich weder das Talent noch die Gelegenheit hatte, für jemanden groß etwas zu bewegen. Vielleicht war das hier meine Gelegenheit. McConnell war der einzige Mensch außerhalb unseres engsten Familienkreises, den Lila in ihr Leben gelassen hatte, der einzige Mensch, dem sie vertraut hatte. Wie Dreyfus war auch McConnell vor dem Tribunal der öffentlichen Meinung aufgrund einer Geschichte abgeurteilt worden - womöglich einer unwahren Geschichte. Vielleicht konnte ich trotz allem eine Sache richtig machen; vielleicht konnte ich McConnell etwas von dem zurückgeben, was er verloren hatte.
    Und dabei könnte ich möglicherweise auch etwas für meine Eltern tun. Zehn Jahre zuvor hatten sie sich scheiden lassen. Ich glaube, sie hatten schließlich die Hoffnung aufgegeben, je wieder miteinander glücklich sein zu können. Die Kluft, die sich in der Zeit nach Lilas Tod zwischen ihnen aufgetan hatte, war von Jahr zu Jahr tiefer geworden. Irgendwann hatten sie sich angewöhnt, allein in den Urlaub zu fahren, wobei meine Mutter so viel Zeit wie möglich allein am Russian River verbrachte. Am Ende kamen sie darin überein, dass ihre Ehe nicht gerettet werden konnte. Am Abend des Tages, als die Scheidung rechtskräftig wurde, kam meine Mutter zu mir zum Essen. »Ich glaube, wenn es irgendetwas Offizielles gegeben hätte«, sagte sie, »eine Verhaftung und eine Verurteilung, dann hätten wir es vielleicht durchstehen können. Letzten Endes ist diese ganze Angelegenheit mit Peter McConnell doch nicht mehr als eine Geschichte in einem Buch.
Vielleicht ist sie wahr, aber das ist keine Gerechtigkeit. Niemand hat je für das bezahlt, was unserer Kleinen passiert ist.«
    Wenn Lila mit einer Problematik nicht zurechtkam, drehte sie gern das Blatt Papier, auf dem sie gerade arbeitete, auf den Kopf. »Es hilft, die Sache aus einer neuen Perspektive zu sehen«, sagte sie dann. »So muss ich mich auf jede einzelne Zahl, jedes Symbol konzentrieren. Als hätte man ein zweites Augenpaar, um dasselbe Bild zu betrachten. Manchmal brauche ich nur einen vollkommen anderen Blickwinkel, um die Lösung zu finden.«
    Im Laufe der Jahre hatte ich mich so an Thorpes Bild von Lilas Tod gewöhnt, dass es mir wie das wahre Bild vorkam. Nun musste ich mir eingestehen, dass es faul von mir gewesen war, Thorpes Geschichte einfach hinzunehmen. Der Kummer hatte mich blind gegen die Logik gemacht. Wenn Thorpe schuldig war, weil er ein durch und durch mangelhaftes Buch geschrieben hatte, dann war ich ebenso schuldig, weil ich seinen Worten geglaubt hatte, ohne sie einem strengen Test zu unterziehen. Nach meiner eigenartigen Begegnung mit McConnell in Diriomo sah plötzlich alles anders aus, so als stünde die Buchseite auf dem Kopf.

14
    VOR DEM ANTIQUARIAT GREEN APPLE BOOKS hielt der Holzzwerg Wache. Im Laden stieg ich die ächzenden Stufen zum ersten Stock

Weitere Kostenlose Bücher