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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Thorpe zu verlangen. Doch schon wenige Minuten mit ihm hatten mir deutlich gezeigt, was ich eigentlich von Anfang an hätte wissen müssen: dass ich nicht einfach eine simple Frage stellen könnte und eine direkte und ehrliche Antwort bekäme. Im persönlichen Umgang, unter all der Planlosigkeit und Desorganisation, war Thorpe schon immer ein gewiefter, cleverer Mann gewesen.
    Ich wandte mich nach rechts und kam in einen quadratischen Raum, in dem ein riesiger Metallschreibtisch stand, flankiert von Bürohängeschränken. Der Schreibtisch war vor ein großes Fenster geschoben. Überall lagen Bücher und Zettel herum, und auf dem Stuhl häuften sich Aktenmappen. Oben auf dem Tisch, offensichtlich zur Beschwerung eines Papierstapels, lag ein Fernglas. Auf dem Holzfußboden waren ringförmige Abdrücke zu erkennen, wo einst Topfpflanzen gestanden hatten. Ich drückte auf den Lichtschalter, aber nichts passierte.
    Thorpe wanderte nebenan herum, öffnete und schloss Schubladen. Ich hörte ihn vor sich hin fluchen. Der Springbrunnen gurgelte im Innenhof.

    Mich verblüffte die Stille in seinem Haus. Nach vielen Jahren in Mietwohnungen hatte ich mich an den ständigen Lärm der Nachbarn gewöhnt - quietschende Garagentore, Toilettenspülungen, plärrende Fernseher. Egal wie schön ein Mietshaus auch sein mochte, den Geräuschen aus den Nachbarwohnungen konnte man nicht entkommen. Ich stellte mir vor, dass ich, sollte ich jemals in ein richtiges Haus ziehen, eins ohne geteilte Wände, die Stille sicher ein bisschen unheimlich finden würde. Ich mochte die Nähe von Nachbarn, selbst von denjenigen, die ich nicht kannte. Wenn nötig, dachte ich mir, konnte ich immer noch um Hilfe rufen. Nie hatte ich das Bild von Lila, allein im Wald mit ihrem Mörder, aus meinem Kopf verbannen können. Falls sie gerufen hatte, dann hatte niemand sie gehört. Eine städtische Umgebung schaffte wenigstens die Illusion von Sicherheit. Es war schwer zu glauben, dass es Häuser wie dieses mitten in San Francisco gab: freistehende Gebäude, in denen man schreien könnte, und niemand würde einen hören. Natürlich war das wahrscheinlich der Grund, warum Thorpes Stadtviertel als letztes Stück Land in der Stadt bebaut wurde. Trotz seines fantastischen Ausblicks und der zentralen Lage hatte Diamond Heights irgendwie etwas Gespenstisches.
    Ich beugte mich über den Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Das Wohnzimmer lag nach Norden hin, das Arbeitszimmer hingegen nach Osten. Neben dem Haus fiel ein steiler, bewaldeter Hügel ab. Jenseits des Hügels schimmerten schemenhaft die Straßen von Noe Valley unter der Straßenbeleuchtung. Ich hatte ein ungutes Gefühl, konnte aber die Ursache meines Unbehagens nicht ganz ausmachen - es war nur eine vage Empfindung, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich räumte die Aktenmappen vom Stuhl, setzte mich an den
Schreibtisch und spähte den Hügel hinab. Auf halber Höhe hatte jemand ein provisorisches Lager aufgeschlagen. Das Ende einer Zigarette glühte. Das war nicht weiter bemerkenswert, es gehörte zur allgemein akzeptierten Absurdität San Franciscos - Obdachlose, die nur wenige Meter von den Häusern von Multimillionären entfernt lebten. Am Fuß des Hügels befand sich ein Zaun und dahinter ein kleiner Spielplatz und dahinter wiederum eine schmale Straße mit aneinandergereihten viktorianischen Häusern. In Noe Valley gab es selbstverständlich viele solcher Straßen, aber mit einem Schauder stellte ich fest, dass das nicht irgendeine Straße war. Vom Haus an der Ecke zählte ich herunter, bis ich beim sechsten auf der rechten Seite anlangte. Ein Licht brannte im oberen Stockwerk. Eine Gestalt tauchte vor dem Fenster auf und blieb dort stehen, regungslos wie eine Fotografie. Ich hob das Fernglas an die Augen und war ein paar Sekunden lang verwirrt, als die Gegenstände vor mir auf dem Schreibtisch bizarr vergrößert in den Linsen erschienen. Dann schwenkte ich vor und zurück, bis ich schließlich das Haus fand, das Fenster. Außen am Fensterrahmen war ein hölzernes Vogelhäuschen befestigt, ein viktorianisches Haus im Miniaturformat. Ich erkannte es sofort - das kleine geschwungene Dach, die kleine rote Tür -, in meinem ersten Jahr auf dem College hatte ich es aus einem Bastelset gebaut und selbst bemalt. Ein Kolibri mit schillerndem blauem Hals war damals jeden Morgen um zehn Uhr zur Futterstelle gekommen. Lila hatte das Häuschen gereinigt und mit Nektar befüllt. Nach ihrem Tod vergaß ich, für

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