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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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hat sich das zweite Ding dann doch nicht herausgestellt. Jane hat einen Monat nach Erscheinen des Buches die Scheidung eingereicht.«
    »Tut mir leid, das zu hören.«
    »So ging es anscheinend auch Oprah.« Er lachte. »Ich war so nah dran. Wer weiß, vielleicht hätte ich der nächste Deepak Chopra oder Dr. Phil werden können. Na ja, es gibt immer ein nächstes Buch, oder?« Er deutete auf das allgemeine Chaos des Wohnzimmers. »Setz dich doch. Du machst mich nervös.«
    Ich räumte einen Platz auf dem Sofa frei. Die Polster gaben nach, als ich mich hinsetzte, sodass meine Knie in die Luft ragten. Etwas roch merkwürdig. Ich stellte fest, dass der süßliche Vanillegeruch von einer riesengroßen, fleischfarbenen Kerze auf dem Couchtisch abgegeben wurde.
    »Tut mir leid, ich konnte keine Untertassen finden«, sagte Thorpe und reichte mir einen dampfenden Becher mit dem Aufdruck eines Hotels in Cleveland.
    Er setzt sich mir gegenüber in den Sessel, legte seine nackten Beine auf den dazugehörigen Hocker und zog den Saum des Bademantels über die Knie. Das Oberteil rutschte auseinander und enthüllte eine blasse, breite Brustwarze, umringt von gelocktem schwarzem Haar. Hinter seinem Kopf erhob sich eine unechte Palme, an der Wand neben der Palme hingen mehrere Holzmasken mit makabren und gequälten Mienen. Ich dachte an Colonel Kurtz im Dschungel. Ich dachte an die betrunkene Nacht vor fast zwanzig Jahren, als ich mit diesem Mann im Bett gelandet war. Er war ein ernsthafter und unbeholfener Liebhaber gewesen; die Nacht hatte schlecht geendet. Damals wie heute schien nichts so ganz real. Vor
langer Zeit hatte ich gelernt, dass die Welt voller grotesker und verstörender Begegnungen war, die komisch oder einfach nur deprimierend sein konnten, je nach Perspektive; in Bezug auf diese hier stand die Entscheidung noch aus.
    »Ich wünschte, du hättest mir Bescheid gegeben, dass du kommst«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über die grauen Stoppeln auf seinem Kopf. »Dann hätte ich aufgeräumt. Wie du siehst, habe ich nicht oft Besuch.« Der Südstaatenakzent war nun vollständig verschwunden; wie ich vermutet hatte, gehörte er nur zur Show.
    Wegen der relativen Höhe des Sessels und der Tiefe der Sofapolster waren meine Augen ungefähr auf Höhe seiner Fußsohlen. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Die Nachtstunden neutralisierten das Territorium doch nicht so weit, wie ich gehofft hatte. Ich räusperte mich, wusste aber nicht, wie ich anfangen sollte.
    »Wie lange ist es jetzt her?«, fragte er.
    »Lange.«
    »Ich wollte dich sehen, Ellie. Sehr sogar. Die Sache zwischen uns hat sich nicht so entwickelt, wie ich es mir gewünscht hatte. Unsere Freundschaft zu verlieren war schwerer für mich, als du es dir vorstellen kannst.«
    »Es war deine Entscheidung«, sagte ich.
    »Wohl kaum.«
    »Ich habe dich angefleht, das Buch nicht zu schreiben.«
    Thorpe stieß den Hocker zur Seite, setzte die Beine auf den Boden und beugte sich vor. »Das stimmt, aber ich schwöre, dass ich dir oder deiner Familie niemals wehtun wollte. Ich war am Ende meiner Kräfte, und das Buch war mein Fluchtweg. Habe ich dir je von dem Tag erzählt, an dem ich mich dazu entschloss, es zu schreiben?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

    »Es war ein Sonntagabend, und ich hatte gerade drei Stunden in einer Institutssitzung meinen Kollegen dabei zugehört, wie sie darüber debattierten, ob eine Kurzgeschichte von Alice Walker oder eine von Hemingway als Basis für die Textanalyse dienen sollte. Ungefähr nach der Hälfte schweiften meine Gedanken zu Lila und deiner Familie ab. Ich konnte nicht fassen, dass man niemanden für die Tat verhaftet hatte. Ich saß also da, und irgendein verklemmter weißer Typ im Rollkragenpulli faselte davon, dass wir den Literaturkanon nicht außer Acht lassen dürfen, während die Neue aus der Frauenforschung über marginalisierte feministische Autorinnen lamentierte, und ich wusste genau, wenn ich dieselben Gespräche noch in fünf Jahren führen würde, dann müsste ich mich umbringen. Also habe ich das Ganze einfach ausgeblendet und zu schreiben begonnen. Als die Sitzung vertagt wurde, hatte ich schon sechs Seiten voll. Sobald ich nach Hause kam, las ich sie mir noch einmal durch, und ich merkte sofort, dass das richtig gut werden könnte. Wenn ich diese Chance nicht ergriffen hätte, dann wäre ich immer noch in irgendeiner winzigen Wohnung eingepfercht und würde miese Aufsätze über eine Hemingway-Story

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