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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Nachschub zu sorgen, und der Kolibri kam nicht mehr.
    Was ich sah, war mein altes Schlafzimmer. Thorpe hatte den perfekten Blick. Die Gestalt am Fenster war eine Frau, nicht viel älter als ich, in einem blassgrünen Bademantel, die
Arme verschränkt. Sie bewegte sich, hob den Arm zu einem Winken. Kurz dachte ich, sie meinte mich. Dann sah ich die Gestalt auf der Straße unter ihrem Fenster - ein Mann, der zu ihr hoch winkte. Ich konnte ihn nicht genau erkennen, aber er sah aus wie ein alter Nachbar von uns.

20
    ICH SPÜRTE SEINE ANWESENHEIT, bevor ich ihn hörte. Mehrere Sekunden vergingen. Ich wartete darauf, dass er sich bemerkbar machte, doch das tat er nicht. Schließlich drehte ich mich um und sah Thorpe im Türrahmen stehen und mich beobachten. Er trug einen weißen Pulli mit Zopfmuster, eine Leinenhose und Ledersandalen. Den Kopf hatte er sich glatt rasiert, und er roch nach Aftershave - eine Mischung aus Orangenblüten, Moschus und Leder, mit einem Hauch Patschuli und Tonkabohne. Der Duft war mir vertraut, aber ich konnte ihn nicht mit einem bestimmen Menschen oder Zeitpunkt in Verbindung bringen.
    Das war die dritte Transformation Thorpes in ebenso vielen Tagen. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Mann, der mir vor einer halben Stunde die Tür geöffnet hatte. Sein Auftreten hatte sich ebenfalls verändert. Jetzt wirkte er etwas angeberisch. Seine Kleidung, das Aftershave, der kahle und glänzende Kopf, all das verlieh ihm nun den Anschein eines Mannes, der mich zum Sonntagsbruch im noblen, lässigen Marin County ausführen will.
    Er kam ins Zimmer und sah aus dem Fenster, den Hügel hinab zu unserem alten Haus. Einen Augenblick lang standen wir nebeneinander in der Dunkelheit. Sein Arm streifte meinen, und ich rückte von ihm ab.

    »Die Birne ist kaputt«, sagte er. »Warte mal kurz.«
    Ein paar Minuten später kam er zurück. Er stellte sich auf einen Stuhl, drehte die alte Glühbirne heraus und reichte sie mir. Ich stopfte sie in den überfüllten Papierkorb und wischte den schmierigen Staub an meiner Jeans ab.
    Das Licht erwachte mit der neuen Birne flackernd wieder zum Leben. Er stand vor mir, die Hände in die Hüften gestützt, ein bisschen schwerer atmend von der Anstrengung.
    »Wie lange wohnst du hier schon?«, fragte ich.
    »Fast zehn Jahre.« Er stand so nah bei mir, dass ich seine Zahnpasta riechen konnte. Ich erkannte sie als die gute alte Sorte Wintergreen von Tom’s of Maine. »Hat sich als gute Investition erwiesen. Ich hab es für vierhunderttausend Dollar gekauft. Der renovierungsbedürftige Kasten auf der anderen Straßenseite ging letzten Monat für 1,7 Millionen weg.«
    »Du könntest alles verkaufen, in die Tropen ziehen und dich dort dem süßen Nichtstun hingeben.« Ich dachte an Peter McConnell, der in Nicaragua in vollkommener Abgeschiedenheit lebte, und überlegte, was er wohl heute Abend machte, was er von meinem Abstecher nach Diamond Heights hielte, um den Mann zur Rede zu stellen, der sein Leben ruiniert hatte.
    »Ja, schon«, sagte Thorpe. »Aber was ist mit meinen Fans?«
    »Schreiben kannst du doch überall.«
    »Das stimmt, aber es geht ja nicht nur ums Schreiben. Man kann das beste Buch aller Zeiten verfassen, aber wenn man nicht da ist, um Interviews zu geben, sich für Zeitschriften fotografieren zu lassen, bei Literaturfestivals aufzutreten, dann geht es unter, die Leserschaft löst sich in Luft auf, und man ist allein mit den leeren Seiten.«
    »Ist das der Grund, warum du das tust - damit du nicht allein bist?«

    »Ist das nicht letztlich der Grund für alles, was Menschen tun?« Er blickte aus dem Fenster, dann wieder zu mir. »Gibt es einen Mann in deinem Leben?«
    »Keinen bestimmten.«
    Mir gefiel die Richtung nicht, die das Gespräch einschlug, aber ich war mir nicht sicher, wie ich sie in die richtige steuern sollte. Ich war hergekommen, um über Peter McConnell zu reden, und jetzt war ich durch diese Fenster abgelenkt. Ich malte mir Thorpe am Schreibtisch sitzend aus, wie er das Kommen und Gehen im Heim meiner Kindheit beobachtete. Bis vor einem Jahr war es meine Mutter gewesen, die er jeden Morgen aus der Garage fahren sah, meine Mutter, die er die Straße entlangschlendern sah, die Tasche mit der Yogamatte über die Schulter geschlungen, auf dem Weg zu ihrem Samstagnachmittagskurs.
    Und jeden Donnerstagabend hätte er natürlich mich gesehen, denn ich kam jeden Donnerstagabend zum Essen. Ich traf um sechs Uhr ein, und meine Mutter und ich

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