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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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tranken ein Glas Wein zusammen, entweder im Wohnzimmer oder auf der Terrasse, je nach Wetterlage. Um halb sieben gingen wir zu Fuß zu Alice’s Restaurant an der Sanchez Street, Ecke Twenty-ninth, wo wir Dim Sums, Orangenhühnchen, Knoblauchgarnelen und Pok Choy bestellten. Gegen halb acht erklommen wir die steile Straße zum Haus meiner Mutter und standen noch ein paar Minuten auf dem Bürgersteig, während wir uns voneinander verabschiedeten. Das machten wir, seit mein Vater nach der Scheidung ausgezogen war, und wenn ich nicht gerade auf Reisen war oder dringende Termine hatte, hielt ich diese Verabredung ein. Es war etwas, worauf meine Mutter und ich zählten. Als sie das Haus verkaufte und nach Santa Cruz zog, hatte ich mich anfangs an den Donnerstagen immer völlig verloren gefühlt. So lange waren
diese Abende ein fester Teil meines Lebens gewesen, dass ich nicht wusste, was mit mir anfangen. Schließlich begann ich, die neu gewonnene freie Zeit mit Kursen zu füllen - Bikram Yoga, russische Konversation, italienisches Kochen, sogar Jazztanz -, aber nie fühlte ich mich ganz zugehörig; der einzige Ort, an dem ich sein wollte, war mein altes Stadtviertel, um mit meiner Mutter über die Ereignisse der Woche zu plaudern. An diesen Donnerstagabenden mit ihr konnte ich wirklich ich selbst sein, gelöst, ohne eine Schutzmauer um mich herum. Zu wissen, dass Thorpe dabei gewesen war, uns wahrscheinlich von hier oben beobachtet hatte, warf ein anderes Licht auf das Ganze.
    Obwohl der unverstellte Blick auf unser altes Haus das nächstliegende Thema war, überging Thorpe es einfach, als existierte es nicht. Es war wieder einmal seine Art, die Unterhaltung zu kontrollieren, sodass jedes Gespräch nach seinen Bedingungen verlief.
    »Es gab da eine Frau, mit der ich eine Zeit lang zusammen war, vor vielen Jahren, bevor ich meine Exfrau Jane kennenlernte«, sagte Thorpe. Er saß jetzt auf der Tischkante, die Beine an den Knien übereinandergeschlagen, die Hände an den Seiten ruhend, eine Haltung, an die ich mich noch aus seinem Unterricht erinnerte. Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl. »Sie hieß Florence, ich nannte sie Flo. Als wir uns schon einige Monate kannten, nahm ich sie mit zu einem Abendessen bei einem meiner ehemaligen Kollegen, Pio Schunker. Kannst du dich noch an ihn erinnern?«
    Ich dachte kurz nach. »Ja, das war der gut aussehende Typ mit dem undefinierbaren Akzent und der Schwäche für Actionfilme. Ich hatte ihn in englischer Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Was ist aus ihm geworden?«
    »Irgendwann hat er der akademischen Welt den Rücken
gekehrt und wurde ein bekannter Werbemacher. Aber darum geht es nicht. Wir fuhren also zu ihm, und nach dem Essen saßen wir im Wohnzimmer und tranken Kaffee, als er zu Flo sagte: ›Komisch, du kamst mir vom ersten Moment an bekannt vor, und den ganzen Abend grüble ich schon darüber nach. Aber jetzt gerade ist es mir eingefallen.‹ Und dann wandte er sich an mich und fragte, ob ich wisse, von wem er sprach.
    Natürlich wusste ich das«, fuhr Thorpe fort. »Aber ich hatte es Flo gegenüber nie erwähnt, weswegen ich so tat, als hätte ich keine Ahnung, wovon er spricht. ›Du erinnerst mich an eine Studentin von Andy und mir früher‹, sagte Pio. ›Ellie Enderlin.‹«
    Die ganze Zeit über hatte ich aus dem Fenster gesehen. Das Licht im oberen Zimmer unseres alten Hauses ging aus. Thorpe stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab. Weil der Raum so klein und mit Möbeln vollgestopft war, konnte er nur drei oder vier Schritte machen, bevor er sich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung ging. »Was ich damit sagen möchte, ist, ich brauchte dich.«
    Das war mir zu viel Intimität, alles ging zu schnell. Ich spürte mich instinktiv Abstand zwischen uns bringen, rollte mit dem Schreibtischstuhl ein paar Zentimeter zurück.
    Er kam näher. »Nein, nicht so «, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. »Nicht, dass ich etwas dagegen gehabt hätte - unsere gemeinsame Nacht war toll, ich denke immer noch daran.«
    Wieder rutschte ich zurück. Wieder rückte er näher. Mein Stuhl war an das Regal gepresst, und ich sah zu ihm auf, sein Gesicht müde und bleich im wenig schmeichelhaften Licht der neuen Glühbirne.
    »Du warst ganz erstaunlich, so offen mir gegenüber.«

    Ich hatte die Nacht in seiner Wohnung in Dolores Park anders in Erinnerung. Ich erinnerte mich an die schlechte Lasagne, den nicht ganz aufgetauten Käsekuchen. Ich erinnerte

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