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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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mich daran, mit ihm auf der Couch zu sitzen, die zweite Flasche Wein ging schon zur Neige, und nicht zu wissen, wie ich mich aus der Situation befreien sollte.
    »Aber ich hätte mich damit abgefunden, dich nie wieder anzufassen, wenn ich dich in meinem Leben hätte behalten können.« Thorpe hatte seine Wanderung durchs Zimmer wieder aufgenommen. »Nicht als Liebesbeziehung, mehr als das - als Freundin, als Inspiration. Weil ich dich nicht haben konnte, habe ich mir jemanden gesucht, der aussah wie du.« Er blieb stehen. »Komisch, oder? Ein bisschen armselig. Ich habe sogar Fotos. Komm mal mit.«
    Noch ehe ich protestieren konnte, hatte er das Zimmer verlassen. Also folgte ich ihm über den Flur in ein Schlafzimmer und stellte erstaunt fest, dass es sauber war. In dem Bett hatte kürzlich jemand geschlafen, aber nur die eine Seite der Decke war aufgeschlagen; die andere Hälfte war glatt gezogen, das Kissen ordentlich aufgeschüttelt. Der Nachttisch war, abgesehen von einem Bücherstapel, leer, und die Streifen auf dem Teppich zeigten, dass er erst vor kurzem gesaugt worden war. In der Ecke am Fenster stand ein schwarzer ergonomischer Stuhl, über dessen Lehne eine akkurat gefaltete Decke lag. Der Raum wurde von einer hohen, modernen Lampe weich beleuchtet. Auch das entsprach dem Mann, den ich vor so vielen Jahren gekannt hatte. Immer wenn ich glaubte, ihn allmählich zu verstehen, wurde ich mit einem Aspekt seiner Persönlichkeit konfrontiert, der meine Einschätzung wieder umstieß.
    »Mach nicht so ein überraschtes Gesicht«, sagte er. »Ich bin durchaus in der Lage, zumindest ein Zimmer im Haus
sauber zu halten. Ich schlafe besser, wenn ich nicht abgelenkt bin.«
    Er holte eine Lederschachtel von der Kommode, stellte sie aufs Bett und nahm den Deckel ab. Die Schachtel war randvoll mit Fotos. Eins nach dem anderen ging er sie durch. »Ich bin mir ganz sicher, dass hier eines drin ist. Ihr beide könntet Schwestern sein.«
    Während er suchte, erhaschte ich flüchtige Blicke auf ihn als Kind und als Halbwüchsigen, überwiegend mit seiner Familie - Urlaubsschnappschüsse aus Disney World und dem Six-Flags-Freizeitpark, Weihnachtsbilder vor dem geschmückten Baum, ein Polaroid von ihm und einer jungen Frau in Barett und Talar, offenbar bei seiner Highschool-Abschlussfeier. Er war zu schnell, ich konnte nicht alle Fotos gut sehen, wodurch ich das Gefühl hatte, eine Einführung in sein Privatleben im Schnelldurchlauf präsentiert zu bekommen. In all den Stunden, in denen ich ihm mein Herz ausschüttete, ihm die vertraulichsten Details meines Lebens erzählte, hatte er fast nichts über sein eigenes preisgegeben. Da war eine Bilderserie von ihm in einer Gondel, und auf jedem Foto - es müssen mindestens zwanzig gewesen sein - hatte er ein anderes Mädchen dabei.
    »Wo ist das?«, fragte ich und nahm ihm ein Bild aus der Hand. Das Mädchen auf diesem Foto war blond, mollig und hübsch, trug einen rot karierten Pulli und weiße Stoffturnschuhe. Sie sah aus wie die Karikatur eines Mädchens vom Bauernhof.
    »Ach, das ist die Gondeltour im Hafen von Marina del Rey«, sagte er. »Ein paar Jahre lang, während ich auf der Uni in Los Angeles war, habe ich Frauen bei der ersten Verabredung immer dorthin eingeladen. Ihnen schien es zu gefallen, und ich mochte die Beständigkeit. Ich dachte mir,
wenn ich für alle die gleichen Wettbewerbsbedingungen schaffe - derselbe Ausflugsort, runter zum Restaurant, danach die Gondelfahrt -, hätte ich eine bessere Basis für den Vergleich.«
    »Hat es funktioniert?«
    »Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine zweite Verabredung gehabt zu haben. Keine von ihnen hat mich inspiriert.«
    Er blätterte durch einige weitere Fotos und fand schließlich, wonach er suchte. »Hier.« Er drückte mir ein Bild in die Hand. »Das ist Flo.«
    Die Aufnahme war im Candlestick Park gemacht worden. Flo saß auf der Tribüne des Stadions, einen Hotdog in der einen Hand, einen Plastikbecher Bier in der anderen. Sie lächelte und blickte direkt in die Kamera. Ihrer Jacke und dem Schal nach zu urteilen war es ein typischer Tag im Candlestick, wenn der Wind kalt von der Bucht her wehte. Lila und ich waren als Kinder mit unseren Eltern zu verschiedenen Baseballspielen dort gewesen, aber ich war nie Fan genug geworden, um mich freiwillig der Eiseskälte auf der Tribüne auszusetzen. Als die Giants im Jahr 2000 in das gemütlichere China Basin umzogen, fing ich an, mir die Spiele regelmäßig anzusehen.
    Doch

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