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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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dass du das ironisch meinst.«
    Schließlich standen wir vor einer Barrikade mitten auf der Straße.
    »Drei Dollar Eintritt«, sagte ein extrem großer Mann in Geschirr und Kandare. Er wieherte, stampfte mit dem riesigen Fuß auf und schüttelte seine künstlich verlängerte Haarmähne. Seine Pferdeähnlichkeit wirkte so überzeugend, dass ich überlegte, ob er wohl jeden Tag so aussah.
    »Tja, wo wir schon mal da sind«, sagte Thorpe und fischte einen Fünfer und einen einzelnen Dollar aus seiner Brieftasche.
    Was ich unter anderem so an San Francisco liebe, ist, dass die Atmosphäre bei jeglicher Art von öffentlicher Veranstaltung immer ausgesprochen unverkrampft ist. Jederzeit kann man in etwas hineinstolpern, was einem wie die Szene aus
einem Film vorkommt. Vor Jahren faltete ich einmal gerade meine Handtücher in einem Waschsalon auf der Diamond Street, als die Titelmelodie aus Grease im Radio ertönte und alle fünf anwesenden Kunden spontan eine Gesangseinlage schmetterten. Hätte man die Zeit und die Lust dazu, man könnte sein Leben als Schelmenroman leben, ohne auch nur ein einziges Mal die Stadt verlassen zu müssen.
    Thorpe wandte seine Aufmerksamkeit einer Auspeitschung vor einer Bude ein paar Meter weiter zu. Die Sonne war drückend, der Geruch nach Leder und mysteriösen Gleitmitteln penetrant. Jemand klopfte mir mit einem Holzpaddel auf den Hintern, doch als ich mich umdrehte, um mir den Übeltäter anzusehen, begegnete ich nur einem Meer von Unschuldsmienen. Ich fühlte mich wie Alice in einer durchgedrehten San-Francisco-Version des Wunderlands, wo der verrückte Hutmacher und all seine irren Freunde auf S&M abfahren.
    Und dann entdeckte ich ein bekanntes Gesicht.
    »Jack?«
    Er zog mich in seine Arme. »Ellie. Meine Güte, wir haben uns ja ewig nicht gesehen.«
    Sein dickes schwarzes Haar hing ihm bis auf die Schultern. Er trug ein Mickymaus-T-Shirt und eine braune Lederhose. »Du siehst super aus«, sagte ich, und das entsprach auch der Wahrheit. Thorpe setzte sein selbstsicherstes Lächeln auf. »Das ist Andrew Thorpe«, stellte ich vor. »Und das ist ein Freund vom College, Jack.«
    »Jackson«, verbesserte er. Erst da fiel mir wieder ein, dass er damals unbedingt Jackson genannt werden wollte, obwohl sein Taufname tatsächlich einfach Jack lautete.
    Wir hatten uns zu Anfang meines Abschlussjahrs kennengelernt und waren mehrere Wochen lang Tag und Nacht zusammen gewesen, bis er mit dem Peace Corps in den Senegal
ging. Es war schön, ihn wiederzusehen. Die Stadt war voller Männer, mit denen ich in den Jahren nach Lilas Tod kurze Beziehungen gehabt hatte. Immer mal wieder begegnete ich einem von ihnen zufällig. Es war interessant, wenn auch etwas irritierend, zu sehen, was aus ihnen geworden war.
    Eine große blonde Frau im roten Lederkleid trat zu uns und legte den Arm um Jacks Taille. »Das ist meine Frau, Stacy«, sagte er. Zu meiner Überraschung stellte er mich als »eine Exfreundin« vor.
    Eine verlegene Pause entstand. »Die Kinder sind mit dem Babysitter zu Hause in Atherton«, sagte Stacy.
    »Kinder?«
    »Wir haben zwei. Erste Klasse und Kindergarten. Sie glauben, wir sind bei einem Betriebsausflug.«
    Stacy war freundlich und schlagfertig, und ich bekam den Eindruck, dass sie, wenn sie nicht gerade angezogen war wie eine Nutte, seriöse Kostüme trug und ein seriöses Einkommen nach Hause brachte - vielleicht als Anwältin oder Grundstücksmaklerin. Aber ich erinnerte mich an Jack/Jackson als schlaksigen Kerl mit einem Joint in der einen und einem Buch in der anderen Hand, nach dem Sex nackt auf seiner verwahrlosten Matratze lümmelnd. Es war seltsam, ihn sich als Ehemann und Familienvater vorzustellen.
    Er reichte mir seine Visitenkarte. »Ruf mich doch mal an. Du könntest zum Essen zu uns kommen. Dann kannst du die kleinen Monster begutachten.«
    »Das wäre toll«, sagte ich, aber ich wusste, ich würde nie anrufen.
    Thorpe und ich schoben uns an Ständen vorbei, die Riesendildos und vergoldete Penisringe verkauften, an fliegenden Händlern, die anatomisch anschauliches Schmalzgebäck feilboten, an Postern, die Spezialevents für diverse Fetische ankündigten.
Eine Frau in einer Krankenschwestertracht aus Latex drückte mir ein Flugblatt in die Hand. Darauf stand: Finde deinen Diener. Erste Sitzung gratis .
    Endlich erreichten wir das Ende der Straße und verließen das Fest. Gerade legte ich mir die Formulierung meiner Bitte im Kopf zurecht, als Thorpe sagte: »Ich habe noch

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