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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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behalten haben, war, dass er ihnen kein Alibi geben wollte. Er weigerte sich standhaft, ihnen zu sagen, wo er in der fraglichen Nacht gewesen war. Aber nach einer Weile wurden sie ein bisschen grob zu ihm, sagten wirklich furchtbare Dinge, und ihm wurde klar, dass sie tatsächlich glaubten, er könnte es getan haben. Da hat er ihnen von seinem zweiten Job erzählt - er arbeitete außerdem noch in einem Stahlwerk in South City. Damals ging es uns wirklich schlecht, arm wie die Kirchenmäuse und ein drittes Baby unterwegs. Er hatte zwei Vollzeitstellen, um uns über Wasser zu halten. Doch in Stanford waren Nebenjobs strikt verboten. Die Hausmeisterstelle war unsere Lebensgrundlage, und Jimmy konnte sich nicht erlauben, sie zu verlieren. Er wusste, wenn er der Polizei von dem Stahlwerk erzählt, dann erfährt sein Boss in Stanford davon und er wird gefeuert.«
    »Und was ist dann passiert?«
    »Am Ende hat er nachgegeben und es der Polizei erzählt, und sie haben seinen Chef im Stahlwerk danach gefragt. Der hat bestätigt, dass er direkt von einer Arbeit zur nächsten gefahren ist. In Stanford hat er um sieben Uhr abends ausgestempelt, um halb neun in South City angefangen und die ganze Nacht gearbeitet. Danach haben sie ihn in Ruhe gelassen.«
    Sie legte den Arm über den Tisch und nahm meine Hand. »Ich weiß, warum Sie hier sind, Liebes, und ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass Sie versuchen, ein paar Sachen rauszufinden. Aber Jimmy war es wirklich nicht. Sie glauben mir doch, oder?«
    Ja, ich glaubte ihr.

    »Was mit ihr passiert ist, hat ihn schrecklich mitgenommen, und auch dass sie dachten, er könnte es getan haben«, sagte sie. »Danach ging alles den Bach runter. Innerhalb weniger Wochen verlor er seinen Job in Stanford, ich hatte eine Fehlgeburt, und wir hätten beinahe das Haus verloren. Das hat ihn verändert. Davor war er so stark gewesen, so fleißig. Er ist ja richtig arm aufgewachsen, hatte einen späten Start ins Leben, und er glaubte ganz fest daran, dass er nur hart arbeiten müsste, um in der Welt voranzukommen.
    Das Verrückte ist, dass dieses kleine Häuschen inzwischen ein Vermögen wert ist, aber wir werden es nie verkaufen. Jimmy steht kaum noch aus dem Bett auf, er hat alle möglichen Probleme mit der Lunge und was nicht noch. Sein ganzes Leben lang hat er für etwas gearbeitet, was er niemals wird genießen können.«
    Aus dem Vorderzimmer kam ein Klopfgeräusch. »Das ist Jimmy«, erklärte Mrs. Wheeler. »Zweimal klopfen. Das bedeutet, er hat Durst.« Sie stand auf und goss Wasser in ein Glas.
    »Vielen, vielen Dank«, sagte ich und erhob mich ebenfalls. Ich hatte das Gefühl, noch etwas anderes sagen zu müssen, wenn es dafür auch viel zu spät war. »Es tut mir leid, dass Ihre Familie in die Sache hineingezogen wurde.«
    Sie lächelte. »Tja, was soll man machen? Man schlägt sich eben einfach durch, so gut es geht. Zum Glück waren Jimmy und ich immer ziemlich verrückt nacheinander, das macht es leichter.«
    Ich folgte ihr durch das Wohnzimmer zurück zur Haustür. Sie zog den Vorhang beiseite, und dort lag James Wheeler, ein Skelett mit einem wilden grauen Haarschopf. »Ich bin hier, Liebster«, sagte Mrs. Wheeler.
    Er sah mich an, und einen Augenblick blitzte etwas in seinem
Blick auf. Er hob einen Arm, wie um zu winken, ließ ihn dann aber zurück aufs Bett fallen.
    »Ich weiß, Liebster«, sagte Mrs. Wheeler und hielt ihm das Wasserglas an die Lippen. »Sie sieht genau wie ihre Schwester aus, nicht wahr?«

23
    AM SAMSTAG TRAF ICH MICH wie versprochen mit Thorpe am Opera Plaza. Als ich ankam, signierte er noch, eine Schlange von Kunden zog sich durch den Laden. Er sah auf, entdeckte mich und formte lautlos mit den Lippen: »Zehn Minuten.«
    Ein gut aussehender Mann betrat die Buchhandlung, ein hässliches Baby in einem Tragesitz umgeschnallt. Er trug eine teure Lederjacke, braune Turnschuhe und eine Jeans, die so eng war und so tief saß, dass es an ein Wunder grenzte, dass er überhaupt laufen konnte. Das Baby hatte eine rosa Mütze mit der Aufschrift Nader for President auf dem Kopf.
    Der wuschelige Haarschnitt und die Koteletten des Mannes waren zu perfekt, um echt zu sein. Er gehörte zu der Schicht junger, gleichgültiger, hipper Leute hier in San Francisco, die mich schon lange mit ihrem scheinbar unbegrenzten Reservoir an Freizeit und Geld verblüfften, was beides offenbar nicht für die Nahrungsaufnahme verwendet wurde. Er drehte sich um und lächelte mich etwas schief an.

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