Niemand, Den Du Kennst
- hätte sein Buch von einem anderen Thema als Lila gehandelt -, dann hätte ich mich möglicherweise geschmeichelt gefühlt. Ich konnte nachvollziehen, dass es unter den richtigen
Bedingungen wirklich nett sein könnte, jemandes Muse zu sein.
Schließlich schloss ich die Fahrertür auf, doch bevor ich sie aufziehen konnte, tat Thorpe es für mich. »Wirklich«, sagte er, als ich mich hinters Steuer gesetzt hatte, »es wäre möglicherweise gar keine so schlechte Idee, sich mal nach Billy Boudreaux zu erkundigen.«
24
»WAS IST MIT THORPE?«, fragte Henry mich einmal.
Es war der 8. Dezember 2004, Lilas fünfzehnter Todestag, und wir waren gerade mit meinen Eltern am Grab gewesen.
Es war ein kühler Tag in Palo Alto, nach einer regnerischen Nacht schien die Sonne. Da in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts sämtliche Friedhöfe aus San Francisco verbannt wurden, hatten wir zunächst nicht gewusst, wo wir Lila bestatten sollten. Am Ende entschieden wir uns für den Alta Mesa Memorial Park, weil er Stanford am nächsten lag. Obwohl die Fahrt dorthin länger dauerte als zu den großen Friedhöfen von Colma und Daly City, schien uns der Ort einfach passender. Uns gefielen die Bäume, die um einige der älteren Grabsteine herum gewachsen waren, und dass das Gelände gepflegt aussah, ohne übertrieben herausgeputzt zu wirken.
Ein Großteil dieses Tages verschwimmt in meiner Erinnerung. Ich weiß noch, dass wir in Henrys Cherokee zum Friedhof fuhren, weil mein Auto in der Werkstatt war. Ich weiß noch, dass er eine Mix-CD für die Fahrt gebrannt hatte, die mit Lilas Lieblingslied begann, »Peace, Love & Understanding« von Elvis Costello, und mit »She Once Lived Here« von Gram Parsons endete. Ich weiß noch, dass er meine Hand beim Fahren hielt und dass wir an einer Tankstelle in Burlingame
anhalten mussten, weil die Tankanzeige aufleuchtete. Ich weiß noch, dass wir bei unserer Ankunft Lilas Grab zunächst nicht fanden, obwohl ich schon oft dort gewesen war, und dass es mir peinlich war, mich verlaufen zu haben. Wäre die Situation umgekehrt gewesen, hätte Lila mit Sicherheit den Grundriss des Friedhofs klar vor Augen gehabt und nicht nur die Platznummer gewusst, sondern auch ganz genau, welchen Weg sie einschlagen müsste.
Nachdem wir einige Zeit herumgeirrt waren, entdeckten wir endlich meine Eltern in der Ferne und gingen zu ihnen. Meine Mutter trug ein marineblaues Kleid und dazu passende kniehohe Stiefel. Sie hatte einen neuen Haarschnitt mit Pony, der sie jünger aussehen ließ. Mein Vater hatte einen Anzug an, und ich brauchte einen Augenblick, bis mir dämmerte, dass er später an diesem Tag noch ins Büro ging. Es machte mich wütend, dass er das hier wie einen ganz normalen Tag behandelte, dass er meine Mutter an einem so wichtigen Datum im Stich ließ. Auch wenn sie einander in den fünf Jahren seit der Scheidung kaum gesehen hatten, war dies doch ein Tag, den sie meiner Ansicht nach zusammen verbringen sollten. Als ich ihn beiseitezog und flüsterte: »Ich glaube, Mom würde sich wirklich freuen, wenn du heute auch dabei wärst«, gab er zurück: »Ich fürchte, mein Schätzchen, das ist das Letzte, was deine Mutter sich wünscht.« Er drückte mir kurz die Schulter und ging weg. Und ich konnte nicht mehr zornig sein, weil er dieses aus meiner Kindheit übrig gebliebene schlichte Kosewort benutzt hatte, dieses Wort, mit dem er mich seit Lilas Tod nicht mehr angesprochen hatte.
Es war am späten Mittag dieses Tages, Henry und ich saßen mit meiner Mutter im Maven Lane Café beim Essen, als er die Frage stellte: »Was ist mit Thorpe?«
Ich saß den beiden gegenüber und warf ihm einen Blick zu, doch er schien nicht zu verstehen.
»Was ist mit ihm?«, sagte meine Mutter misstrauisch.
»Ich mache mir nur Gedanken über seine Motive«, sagte Henry. »Ich frage mich, warum er sich solche Mühe gegeben hat, Peter McConnell zu belasten.«
»Das war nicht allzu schwer, Henry«, sagte meine Mutter. Ich erkannte diesen Tonfall - ich hatte ihn gehört, wenn ich sie vor Gericht einen Fall verhandeln sah. Er bedeutete, dass Henry sich auf dünnem Eis bewegte. Per Telepathie versuchte ich, ihn zu einem Rückzieher zu bewegen, doch er fuhr fort: »Ich meine ja nur, hat ihn sich jemals jemand angesehen?«
»Angesehen?«, fragte meine Mutter.
»Sie haben doch ständig mit Verbrechen zu tun«, sagte Henry. »Der Täter ist doch sicherlich nicht immer derjenige, der auf den ersten Blick schuldig
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