Niemand, Den Du Kennst
erscheint.«
»Henry«, sagte ich. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Tatsächlich«, sagte meine Mutter, »ist in neun von zehn Fällen derjenige, der schuldig erscheint, auch der Täter.«
Henry wurde rot.
»Gibst du mir bitte das Salz?«, sagte ich.
Aber es war zu spät. Meine Mutter hatte ihre Gabel hingelegt und sich Henry zugewandt. »Fahren Sie doch bitte fort.«
Henry nahm einen Schluck Wasser und sah mich an, als könnte ich ihn retten. Aber ich kannte meine Mutter. Nun, da er sie in diese Unterhaltung gelockt hatte, käme er nicht wieder heraus, bis er seine Argumente vorgetragen hatte, wie auch immer sie lauteten.
»Mir kommen nur einfach Thorpes Interessen in der ganzen Angelegenheit höchst sonderbar vor. Im Buch bemüht er
sich, es so darzustellen, als hätte McConnell von Lilas Tod profitieren können, aber in Wahrheit konnte er doch nur verlieren. Seine Karriere stand auf dem Spiel, seine Ehe. Alles an ihm deutete darauf hin, dass er ein rationaler Mann war, der Typ Mensch, der die Konsequenzen seiner Handlungen abwägen würde. Für mich passt das alles nicht zusammen. Im Prinzip war der Einzige, der am Ende einen Vorteil daraus zog, Thorpe.«
»Wie kommst du überhaupt jetzt darauf?«, fragte ich. »Warum um alles in der Welt fängst du gerade jetzt damit an?«
»Ich habe letzte Woche einen Artikel im Esquire gelesen«, sagte er. »Über die drei Morde im Golden Gate Park im vergangenen Jahr.«
»Die Obdachlosen, die im Schlaf getötet wurden?«, fragte meine Mutter. Ich konnte mich auch daran erinnern. Es war einige Monate groß in den Lokalnachrichten gewesen. Die Bewohner des Viertels Outer Sunset, in dessen Nähe die Morde stattgefunden hatten, waren langsam unruhig geworden.
»Ja«, sagte Henry. »Der Artikel war von Thorpe.«
»Und wenn schon«, sagte ich. »So verdient er sein Geld. Mit den Tragödien anderer Menschen.«
»Aber der Ton des Textes hatte etwas Merkwürdiges«, meinte Henry, »etwas beinahe Genüssliches. Ich hatte den Eindruck, Thorpe hätte tatsächlich Vergnügen an den Einzelheiten. Die Polizei hat die drei Fälle - einer wurde erstochen, einer erschossen und einer erdrosselt - nie miteinander in Verbindung gebracht, aber Thorpe erwähnte immer wieder den Serienmörder aus dem Golden Gate Park, als stünde fest, dass sie alle zusammenhingen. Als wüsste er etwas, was sonst niemand wusste.«
So ein schlechtes Timing, so ein Mangel an Feingefühl passte gar nicht zu Henry. Ich bedauerte, ihn mitgebracht zu
haben. Meine Mutter hatte an Lilas Todestag schon genug zu kämpfen. Das hier brauchte sie nicht auch noch. »Das passt jetzt nicht so gut hierher«, sagte ich. »Lass es gut sein.«
Meine Mutter nahm ihre Gabel wieder in die Hand und schob ihren Salat auf dem Teller herum. »Ist schon in Ordnung, Ellie. Es ist nicht so, als hätte ich noch nie darüber nachgedacht.«
»Ach ja?«
Mit weichem Blick sah sie mich an. »Nicht, dass ich es für besonders glaubhaft halten würde. Aber ich habe so ungefähr alles einmal durchgedacht. Jede Möglichkeit, egal wie weit hergeholt. Ich habe hundert unterschiedliche Szenarien im Kopf durchgespielt. Wenn ihr mich persönlich fragt, ich glaube tief im Herzen, dass es Peter McConnell war. Aber objektiv betrachtet, als Anwältin, muss ich sagen, dass die Vorwürfe gegen ihn dürftig sind. Nur eines weiß ich mit Sicherheit.« Sie streckte die Hand über den Tisch und drückte meine. »Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an deine Schwester denke. Fünfzehn Jahre, und kein einziger Tag.«
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BEI GOOGLE ERGAB »Billy Boudreaux« über einhundert Treffer, aber als ich den Suchbegriff »San Francisco« hinzufügte, verringerten sich die Einträge auf eine Handvoll. Einer der Links führt zu einer spärlichen Wikipedia-Seite, die einer Band namens Potrero Sound Station gewidmet war. Zwei kurze Absätze beschrieben sie als eine Gruppe, die sich 1975 formiert und 1979 wieder aufgelöst hatte. Der Mann, nach dem ich suchte, erhielt eine einzige Erwähnung: Billy Boudreaux am Bass .
Die Suche nach »Potrero Sound Station« ihrerseits lieferte eine Fan-Seite, deren letztes Update fünf Jahre zurücklag. Die Seite befasste sich überwiegend mit dem Leadsänger, den man unter dem Namen Sound kannte. Nach der Auflösung der Band hatte sich Sound an einer glanzlosen Solokarriere versucht, bevor er eine Autowerkstatt in Aurora, Colorado, eröffnete. Sein echter Name lautete Kevin Walsh. Sein erstes Soloalbum seit sechzehn
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