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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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ZU HAUSE befasste ich mich mit Strachman. Ich begann mit dem Artikel aus dem Chronicle , »Der tüchtigste Mann San Franciscos«. Danach las ich ein Interview in der Zeitschrift Marin , in dem er von seinen beiden Kindern erzählte, seiner Begeisterung fürs Hochseefischen, seinem Faible für Frank Sinatra und einem Café namens Crossroads in der Nähe seines Büros, wo er jeden Morgen seinen Kaffee trank. In dem Gespräch wirkte er wie ein ganz normaler, netter Typ, und seit er den Hilbert-Preis bekommen hatte, waren zwanzig Jahre vergangen. Konnten Menschen sich ändern? Unter der Voraussetzung, dass er ausreichend Zeit und günstige Umstände zur Verfügung hatte - konnte ein gewalttätiger Verbrecher sich in ein produktives, sogar sympathisches Mitglied der Gesellschaft verwandeln?
    Am nächsten Morgen fuhr ich zum Crossroads in South Beach. Um sechs Uhr fünfundvierzig stand ich vor der Tür, aber ein Schild im Fenster verkündete, dass das Café erst um sieben öffnete, also machte ich noch einen kleinen Spaziergang. Am Abend zuvor hatte ein Giants-Spiel stattgefunden, und die Gehwege waren mit Wimpeln und Plastikbechern übersät. Ich kam an einem Mann in Bademantel und Turnschuhen vorbei, der mit einem Wasserschlauch Erbrochenes vom Bürgersteig vor seinem mehrere Millionen Dollar teuren
Loft wegspritzte. An einer Bushaltestelle saß ein Schulmädchen in einem karierten Rock mit zweifarbigen Schnürschuhen, das abwechselnd an einer Zigarette paffte und sie wütend anfunkelte, als hätte sie ihr etwas getan.
    Als ich wieder beim Crossroads ankam, hatte es geöffnet. Ich bestellte mir einen Sumatra und nahm die Bücherregale in Augenschein. Es gab eine interessante, vielseitige Auswahl an Romanen und Biografien. Ein handgeschriebener Zettel an einem der Regalbretter teilte mit, dass das Thema des Monats Nebel sei. Unter den ausgestellten Büchern waren Footsteps in the Fog: Alfred Hitchcock’s San Francisco ; Mond über Manhattan von Paul Auster; und Traum im Polarnebel von Juri Rytchëu. Im untersten Fach entdeckte ich einen Roman, den ich erst kürzlich gelesen hatte, eine Art literarischen Krimi über eine Entführung, der in San Francisco spielte. Das Buch war interessant gewesen, wenn auch etwas langatmig. Ab der Hälfte hatte ich immer mal wieder längere Passagen über Gedächtnis und Schuld überblättert, um zum Kern der Geschichte zu gelangen. Beim Lesen war mir der Gedanke gekommen, dass manchmal eine Geschichte einfach nur einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss brauchte. Vielleicht waren deshalb Thorpes Bücher so beliebt. Er trödelte nie mit abgehobenen Spezialthemen herum. Er zeichnete seine Figuren gleich zu Anfang und rasch, beinahe methodisch, um mit der Handlung voranzukommen. Wenn ich seine Arbeit objektiv betrachten könnte - was unter den gegebenen Umständen praktisch unmöglich war -, dann würde ich erkennen, dass er wusste, wie man in eine Geschichte einstieg, wie man die Leser bei der Stange hielt und die ganze Angelegenheit erst wenige Seiten vor dem beabsichtigten Ende zu einem zufriedenstellenden Abschluss brachte; man wollte mehr von ihm lesen.

    »Viele Autoren glauben, Popularität sei der literarische Todesstoß«, erzählte er mir einmal, wenige Monate bevor ich von seinen Plänen für das Buch über Lila erfuhr. »Wenn zu viele Leute Spaß an ihren Büchern haben, meinen sie, sie hätten sich verkauft. Aber falls und wenn ich jemals ein Buch veröffentliche - Klopf auf Holz! -, dann will ich auch, dass es Leute lesen. Viele, viele Leute.«
    Damals hatte mich Thorpes unverhüllter Ehrgeiz verwundert. Ich hatte mich gefragt, ob ich wohl jemals selbst so eine drängende Ambition empfände. Ich gehörte zu den Literaturstudenten, die Bücher lesen, nicht schreiben wollten. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Abschluss anfangen wollte, wenn ich ihn erst hatte. Im Gegensatz zu Lila, deren Weg vorgezeichnet war, seit sie in der Grundschule ihr erstes Mathebuch aufgeschlagen hatte, war ich damals völlig ratlos, was meine Zukunft betraf. Im Endeffekt hatte mich der Zufall zu meinem Beruf geführt, nicht der Ehrgeiz. Zufall war genau das, wofür Lila keine Verwendung hatte.
    Inzwischen hatte sich das Café mit Gästen gefüllt. Ich forschte in ihren Gesichtern, suchte nach Steve Strachman. Dem Interview in der Zeitschrift zufolge kam er unter der Woche jeden Morgen auf einen doppelten Latte und zum Zeitunglesen hierher. Die Zeitung las er im Café, dann ging er zu

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