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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Sie gelangten nach Brasilien.« Jetzt bedeckte er meine Hand vollständig mit seiner. »Hast du schon mal Rumis Gedicht über Kaffee gehört?«
    »Sag nicht, dass du jetzt anfängst, Gedichte zu rezitieren.«
    »Wenn die schwarzen Geister sich in uns ergießen«, begann Henry so leise, dass ich mich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Dann trägt uns der Geist Gottes und der Luft/ und alles Wunderbaren im Inneren/nie endend durch die Nacht.«
    Jedem anderen hätte ich ins Gesicht gelacht. Aber das war Henry. Er hatte die Gabe des Vortragens.
    Nun, da er zurück war, wusste ich nicht mehr, wie ich mich in seiner Gegenwart verhalten sollte. Das war der Mann, mit dem ich mir ein Leben aufzubauen gehofft hatte, mit dem ich ein Kind hatte bekommen wollen. Neben ihm im Kaffeelager zu stehen, seine Stimme zu hören und den erdigen Kiefernzapfenduft
seiner Haut zu riechen erinnerte mich wieder einmal daran, dass meine Gefühle für ihn nicht rein nostalgisch waren.
    Trotz meiner Verwirrung schnappte ich genug von der Unterhaltung auf, um zu verstehen, dass er von der Ostküste zurück nach San Francisco gezogen war und hier ein eigenes Café eröffnete. Er wollte seine Bohnen von uns kaufen.
    Mike entschuldigte sich wegen eines Meetings und legte Henry mit festem Griff die Hände auf die Schultern. »Wir freuen uns, dich wiederzuhaben«, sagte er. »Ich habe sowieso nie geglaubt, dass du es dort lange aushältst. Blizzards, Schnöselsandwichs - wer braucht den Kram schon?«
    »Wir werden sehen.«
    »Ich vertraue dich Ellies Obhut an«, sagte Mike. »Es ist toller Kaffee aus Nicaragua unterwegs. Sie kann dir alles darüber erzählen.« Die anderen entschuldigten sich ebenfalls und ließen Henry und mich allein.
    »Du hast dich überhaupt nicht verändert«, sagte er.
    »Du auch nicht.« Mein Mund war trocken. Ich hatte wieder das vertraute alte Gefühl, ihm einfach näher kommen zu wollen. Selbst während dieser letzten Monate, als wir uns so viel stritten, hatte das Bedürfnis, seine Haut zu berühren und seine Hände auf mir zu spüren, nie nachgelassen.
    »Eigentlich bin ich auf dem Sprung«, sagte er. »Ich muss den Mietvertrag für den neuen Laden unterschreiben. Hast du Lust, am Freitag essen zu gehen?«
    Ich konnte nicht fassen, dass er so zwanglos fragte, als wäre er nie weg gewesen. Als hätten die letzten drei Jahre nicht stattgefunden.
    »Würde ich gern, aber ich habe schon was vor«, sagte ich. Und das stimmte auch. Ben Fong-Torres hatte angerufen. Die Kassette, die Billy Boudreaux ihm 1999 gegeben hatte, war
wieder aufgetaucht. Er meinte, sie würde mich vielleicht interessieren.
    Henry und ich gingen hinaus. Der Nebel hing tief über den Dächern, und die Welt fühlte sich kühl und still an. Direkt vor der Tür parkte ein Auto, ein silberner Prius mit Hybridantrieb.
    »Das bin ich«, sagte Henry und legte eine Hand aufs Wagendach.
    »Du bist ein Öko geworden.«
    »Es ist ein gutes Auto für die Stadt«, erklärte er, »ziemlich flott. Obwohl ich mich noch nicht dazu überwinden konnte, den Jeep ganz aufzugeben. Er steht momentan auf der Straße vor meiner Wohnung. Alle paar Tage muss ich ihn umparken, damit ich keinen Strafzettel bekomme.«
    »Den Jeep habe ich geliebt.«
    »Wir hatten vor ungefähr einem Jahr einen Unfall im Norden von New York«, erzählte er. »Ich lag sogar zwei Wochen im Krankenhaus. Aber der Jeep verhielt sich traumhaft. Wenn ich in dem kleinen Ding hier gesessen hätte, wäre ich vermutlich tot.«
    Mein erster Gedanke war: Was hätte ich getan, wenn ich von Henrys Tod erfahren hätte? Und mein zweiter: Warum spricht er im Plural?
    Seit drei Jahren fragte ich mich, was aus ihm geworden war, was genau damals schiefgelaufen war. Dutzende Male hatte ich diesen letzten Streit im Kopf durchgespielt und mich gescholten, weil ich gegangen war, anstatt im Hotelzimmer bei ihm zu bleiben und die Sache zu klären. Ich wollte ihn fragen, was geschehen, warum er gegangen war, ob seine Liebe zu mir einfach aufgehört hatte. Und wenn ja, wann? Aber ich konnte es nicht. Stattdessen unterhielten wir uns über Autos.

    Ich schielte nach seiner linken Hand. Er trug keinen Ring. Und dann stellte ich die Frage, weil ich einfach nicht anders konnte. »Wer ist wir?«
    »Wie bitte?«
    »Du sagtest ›wir hatten einen Unfall‹.« Im selben Moment wünschte ich, ich hätte nicht gefragt, aber nun konnte ich nicht mehr zurück.
    »Der Jeep«, sagte er grinsend. »Ich meinte mich und den Jeep.«

29
    ABENDS

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