Niemand, Den Du Kennst
Schlafzimmertür meiner Eltern, weil ich mir von meiner
Mutter einen Gürtel leihen wollte. »Komm rein«, sagte sie mit gekünstelt fröhlicher Stimme.
Mein Vater war an dem Abend nicht zu Hause, und als ich ins Zimmer trat, sah ich meine Mutter auf der Bettkante sitzen und sich die Augen wischen.
Ich setzte mich neben sie. »Was ist denn los?«
Sie lächelte und legte mir einen Arm um die Schultern. »Ach, nur etwas, was dein Vater und ich besprechen müssen.«
»Erzähl es mir.«
Sie zupfte ein Kleenex-Tuch aus der Schachtel auf dem Nachttisch, putzte sich die Nase und sagte: »Er bildet sich ein, dass ich ihn betrüge.«
»Wie bitte? Du machst hoffentlich Witze.«
»Er sagt, ich sei in letzter Zeit so distanziert. Vielleicht stimmt das auch. Wenn ja, dann hat es nichts mit deinem Vater zu tun. Ich bin nur …« Sie hielt inne, als suchte sie nach dem richtigen Wort. »Traurig«, beendete sie ihren Satz. »Ich bin schon eine ganze Weile traurig. Und dein Vater ist an ein gewisses Maß an …« Wieder stockte sie, dann sah sie mir direkt ins Gesicht. »Aufmerksamkeit gewöhnt, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Mama!«, protestierte ich. »Wie krass.«
»Na, du wolltest es ja wissen. Auf jeden Fall hat er sich in eine fixe Idee hineingesteigert. Immer, wenn ich länger arbeiten muss, wird er misstrauisch. Gestern sagte ich ihm, ich könne nicht mit ihm zu Mittag essen, weil ich um zwölf ein Meeting habe, das wahrscheinlich mehrere Stunden dauern würde. Was auch so war, nur dass das Meeting in der letzten Minute auf halb zwei verschoben wurde. Zu dem Zeitpunkt war es schon zu spät, deinen Vater anzurufen und ihn quer durch die Stadt zu jagen. Also ging ich schnell mit Liam über die Straße, um etwas zu essen.«
Liam war einer der jüngeren Kollegen in ihrer Kanzlei. Ich war ihm einige Male im Büro begegnet. Er sah fantastisch aus und hätte es einmal um ein Haar ins olympische Skiteam geschafft. Aber als ich mich mit ihm unterhalten wollte, stellte ich fest, dass er wahnsinnig langweilig war.
»Und?«
»Und aus irgendeinem verrückten Grund hat dein Vater vor dem Gebäude gewartet und beobachtet, wie ich mit Liam in ein Restaurant ging. Wir sitzen da und essen unsere Pasta, sprechen über den Fall, und dein Vater stürmt herein und verlangt, mit mir zu reden.«
»Das hat Dad gemacht?«
»Ich habe mich entschuldigt«, erzählte meine Mutter, »und wir setzten uns in sein Auto, um zu reden. Er sagte, er wisse, dass etwas im Busch sei, und mich dort mit Liam sitzen zu sehen, obwohl ich eigentlich mit ihm verabredet sein sollte, sei der Beweis. Jetzt glaubt er also, ich hätte eine Affäre mit Liam! Kannst du das fassen?« Sie lachte und weinte gleichzeitig.
Von Bens Haus aus fuhr ich nach Hause und hörte mir das Lied auf der Kassette immer und immer wieder an, stundenlang. Ich musste in Betracht ziehen, dass ich mich wie mein Vater vor all den Jahren nur verrückt machte, nach etwas suchte, das nicht da war. Immerhin war der Text so vage, dass er von jedem verfasst sein und unzählige Bedeutungen haben konnte. Doch der Song schien durchtränkt von Schuld - »was habe ich getan, was habe ich getan« -, und die Erwähnung der Bäume wühlte mich auf. Der Text an sich wäre vollkommen unschuldig gewesen. Und doch durfte ich den Kontext nicht außer Acht lassen: Boudreaux’ Auto im Wald von Armstrong Woods.
Bei unserem ersten Treffen fragte ich Ben, ob er sich irgendeinen Grund vorstellen könnte, weshalb Boudreaux dort gewesen sein sollte. Ich fragte, ob er gern wanderte oder ob er vielleicht Verwandte am Russian River hatte. Letzteres konnte Ben nicht sagen, aber was das Wandern betraf, glaubte er nicht, dass Boudreaux ein großer Naturfreund war. »Er fühlte sich wohler in einer Kneipe oder einem Aufnahmestudio«, hatte Ben gesagt. »Als ich ihn das erste Mal traf, war er seit Monaten nicht in der Sonne gewesen. Weshalb ich auch so erstaunt war, als er mir Jahre später erzählte, er arbeite auf einem Bauernhof. Es schien mir einfach nicht zu seinem Wesen zu passen.«
Durch mein Schlafzimmerfenster konnte ich die gedämpften Lichter der Stadt sehen. Ein schlanker Mond - von der Sorte, die Lila einen »Fingernagelmond« getauft hatte - stand hoch am Himmel, und eine Nebelschwade hing an seiner Spitze wie ein riesiger weißer Mantel. Zum vielleicht dreißigsten Mal in dieser Nacht hatte ich auf meinem tragbaren Kassettenrekorder zurückgespult, das Brummen und Klackern des Bandes gehört
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