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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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über seinen Saiten weinend. Bevor das dritte Lied anfing, drückte Ben auf »Pause« und sagte: »Ganz schön beeindruckend, was?«
    »Ja, das stimmt.«
    »Das Nächste hier hat mich eiskalt erwischt. Ich habe Boudreaux noch nie auf dem Keyboard gehört, aber das ist längst nicht alles. Ich hätte Sie fast nicht angerufen. Wusste nicht, ob Sie in dieses Wespennest stechen wollen. Aber dann habe ich mit Dianne gesprochen, und sie meinte, Sie sollten das wirklich hören.«
    Ich schluckte. »In Ordnung.«
    Er drückte auf »Play«. Ich beugte mich vor und lauschte. Die ersten paar Minuten hörte man nur Boudreaux am Keyboard. Die Töne kamen viel weniger sicher als auf dem Bass, dennoch hatte die Musik etwas an sich, was am Gehirn vorbei unmittelbar ins Herz traf, gleichsam als fühlte Boudreaux jede einzelne Note davon. Sie hatte auch etwas sehr Persönliches, als hätte Boudreaux nicht erwartet, dass ein anderes lebendes Wesen diese Klänge je hören würde. Es war, wie jemandes Träumen zu lauschen. Und dann setzte der Gesang ein. Seine Stimme versagte einige Male bei den ersten Zeilen, dann wurde sie stärker, doch nie gänzlich zuversichtlich. Später, als ich mir den Song allein in meiner Wohnung unzählige Male anhörte, erkannte ich, dass es diese Unsicherheit in der Stimme war, die schutzlose Emotionalität, die das Lied so schön machte. Seine Stimme erinnerte mich ein wenig an Townes Van Zandt, und ich dachte an eine Nacht vor mehr als dreißig Jahren, als meine Eltern Lila und mich mit ins Fillmore nahmen, um Van Zandt auftreten zu sehen. Vor dem Gebäude auf dem Geary Boulevard standen wir an einem kalten Februarabend Schlange. Nebenan lag der imposante zweistöckige Bau, in dem das Hauptquartier der berüchtigten
religiösen Gruppierung Peoples Temple untergebracht war. Zwischen den Leuten, die zu Van Zandts Konzert wollten, standen Angehörige der Sekte sowie Bedürftige, die auf eine kostenlose Mahlzeit im Speisesaal der Kirche warteten. Dann stieg ein Mann mit schwarz gefärbten Haaren aus einer Limousine und wurde sofort von Menschen umringt, die alle sein Haar und seine Kleider berühren wollten. Er lächelte und umarmte jeden, küsste mehrere Frauen und sogar ein paar Mädchen, die kaum älter aussahen als Lila, auf den Mund.
    »Ist das Townes Van Zandt?«, fragte ich.
    Meine Mutter zog Lila und mich dicht an sich. »Nein. Das ist Jim Jones.«
    Nicht lange danach sollte der Mann mit den gefärbten Haaren in Guayana in den Tod gehen, zusammen mit Hunderten seiner Jünger. Ein paar Tage später würde Dan White ein Attentat auf den schwulen Bürgerrechtler Harvey Milk und Bürgermeister George Moscone verüben und letztendlich mit einer extrem niedrigen Gefängnisstrafe davonkommen, weil er zur Tatzeit unter dem angeblich bewusstseinsverändernden Einfluss der Süßigkeit Twinkies gestanden habe. Als Kind wusste ich nicht, dass San Francisco anders als andere Orte war. Erst als ich älter wurde, stellte ich fest, wie seltsam meine Stadt Menschen aus anderen Landesteilen vorkam. Für mich war es einfach mein Zuhause, eine Stadt, in der man eines Morgens aufwachte und erfuhr, dass jemand, den man kannte, einer Sekte nach Guayana gefolgt war, oder dass jemand, den man kannte, an Aids gestorben war oder dass der Bürgermeister ermordet wurde. Hier passierten ständig merkwürdige Dinge: Manche davon waren schön, andere schrecklich, alle gehörten zum Leben der Stadt in der Bucht.

31
    DAS DRITTE STÜCK auf der Kassette trug den Titel »The Forest«. Der Wald. Als Boudreaux den einfachen Refrain sang, klang seine Stimme wie erstickt von Gefühlen:
    Deep in the trees I’m on my knees
Looking at you and not believing
What have I done, my beautiful one
What have I done
    Das Lied jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Dort zwischen den Bäumen knie ich, ich sehe dich an und kann nicht glauben, was ich getan habe, meine Schöne, was habe ich getan . Ich versuchte, objektiv zu bleiben. Eines, was meine Mutter mir in ihren Jahren als Anwältin beigebracht hatte, war, dass man nur intensiv genug nach etwas suchen muss, dann kann man es fast immer finden. Wenn wir glauben, dass etwas wahr ist, dann suchen wir nach Hinweisen, die unsere vorgefasste Schlussfolgerung bestätigen, und sieben alles heraus, was im Widerspruch zu unserer Überzeugung stehen könnte. Sie hatte es bei Geschworenen erlebt. Sie hatte es sogar bei meinem Vater erlebt.
    Eines Abends, etwa ein Jahr nach Lilas Tod, klopfte ich an die

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