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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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und mir »The Forest« angehört.
    »Deep in the trees, I’m on my knees«, sang Boudreaux, seine heisere Stimme beinahe tonlos beim letzten Wort. »Looking at you and not believing.« Als das Keyboard leiser wurde und das Lied sich dem Ende zuneigte, sang ich mit: »What have I done, my beautiful one? What have I done?«
     
    Am nächsten Morgen rief ich die Nummer des Boudreaux-Family-Dairy-Bauernhofs an. Eine Männerstimme, barsch und verschlafen klingend, meldete sich nach dem dritten Klingeln.
    »Mr. Boudreaux?«, fragte ich.
    »Am Apparat.«

    Mein Herz machte einen kleinen Satz. Doch dann fiel mir ein, dass ich in meiner Aufregung vergessen hatte, nach dem Vornamen zu fragen. Konnte das dieselbe Stimme sein, die ich auf der Kassette gehört hatte, oder war es die Stimme von Billy Boudreauxs Bruder?
    »Ich wollte mich erkundigen, ob ich Ihren Hof einmal besichtigen könnte«, sagte ich.
    »Das ist jetzt gerade eine ziemlich hektische Jahreszeit bei uns. Wahrscheinlich würden Sie sowieso auf einem der größeren Höfe mehr mitbekommen. Bei Stornetta machen sie Führungen.«
    »Ich hätte mir eigentlich gern einen kleineren Betrieb angesehen«, sagte ich.
    »Dann habe ich einen Vorschlag. Ende des Monats ist das Farm Trail Weekend. Am Sonntag, den 29. August. Da haben alle Bauernhöfe hier draußen in der Gegend Tag der offenen Tür. Dann können Sie sich ansehen, was wir so machen. Es gibt einen Kürbisbauern, eine Ziegenfarm, einen Bienenzüchter, also alles, was das Herz begehrt. Und wir sind auch dabei. Sie sind herzlich eingeladen, zu kommen.«
    Nachdem ich aufgelegt hatte, schrieb ich mir HOFBESICH-TIGUNG mit rotem Filzstift in meinen Wandkalender.

32
    »ICH BIN EHER EIN NACHTMENSCH«, hatte Don Carroll gesagt, als ich ihn am Telefon um ein Treffen bat. »Könnten Sie etwas später vorbeikommen?«
    Bei meiner Ankunft im Mathematikgebäude in Stanford um kurz nach zehn Uhr abends kam mir alles seltsam bekannt vor. Ich fühlte mich daran erinnert, wie ich damals McConnell in diesem Trakt aufgespürt, wie ich die Studenten belauscht hatte, die über ihn sprachen wie über einen Prominenten. Nun war das Institut leer, meine Schritte hallten auf dem Flur. Ich fröstelte in meinem dünnen Pullover, wünschte, ich hätte eine Jacke angezogen. Der typische Geruch öffentlicher Gebäude hing in der Luft - Putzmittel und Pappe, ein leicht chemischer Duft, der vielleicht von getrocknetem Radiergummi herrührte. Der Geruch der Welt änderte sich, das merkte ich jeden Tag. Als ich auf dem College war, rochen die Gänge der University of San Francisco nach Kreide, alten Büchern und Druckertinte.
    Ich bog ein paarmal falsch ab, bis ich die Raumnummer fand. Die Tür stand offen, Carroll saß mit dem Rücken zu mir vor seinem Computer am Fenster, eine Kaffeetasse gefährlich nah an der Tischkante. Er war so reglos, als schliefe er. Ich klopfte sachte an die Tür, aber er hörte es offenbar nicht, also räusperte ich mich und klopfte etwas lauter. Er wandte sich
um. Er hatte graue Haare und eine Brille, ein freundliches Gesicht mit hellbraunen Augen.
    »Ellie Enderlin?«
    »Ja. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen.«
    »Entschuldigen Sie die späte Stunde. Je älter ich werde, desto weniger schlafe ich. Wussten Sie, dass Thomas Edison behauptete, nur drei Stunden pro Nacht zu schlafen? Er erfand die Glühbirne, damit die Menschheit ihre Zeit nicht im Bett verschwendete. Er hielt Schlaf für den Feind des Fortschritts.«
    Carroll blickte auf seine Hand, als hätte er gerade erst den großen Umschlag bemerkt, den er darin hielt. »Verzeihung, ich muss das eben unter der Tür des Sekretariats durchschieben.«
    Während ich auf ihn wartete, sah ich mich im Büro um. Die Wände hingen voller Gedenktafeln, billig gerahmten Urkunden für diverse Auszeichnungen und Fotos - man sah ihn mit Jimmy Carter, Hammer in der Hand, vor einem Rohbau; mit Stephen Hawking; mit Paul Allen; mit Baron Davis. Auf dem Schreibtisch standen private Bilder: eine attraktive Frau um die sechzig, wahrscheinlich seine Frau; ein schwarzer Cockerspaniel; ein kleines Mädchen auf einem blauen Fahrrad. Eines fiel mir besonders ins Auge: ein Foto von Carroll im Regen neben einem jungen Peter McConnell, beide in weißen Ponchos. An dem Winkel der Golden Gate Bridge im Hintergrund konnte ich erkennen, dass die Aufnahme in Crissy Fields entstanden war.
    Oben auf einem Papierstapel lag ein gebundenes Buch. Als ich den Umschlag sah, schrak ich zusammen. Das Buch

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