Niemand, Den Du Kennst
emotionalen Verbindung, die mächtiger war als sein oder ihr Wille. In seiner Schilderung klang es mehr nach einer tragischen Liebesgeschichte als nach einer schmuddeligen Affäre. Doch die Vorstellung von den beiden spätabends im Büro - seine Frau wartete vermutlich zu Hause auf ihn, das Kind lag im Bett - zwang mich, mir etwas vor Augen zu führen, worüber
ich nicht nachdenken wollte, worüber ich noch nie hatte nachdenken wollen. Sie hatte wissentlich ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, einem Vater gehabt. Ihre Beziehung hatte nicht rein auf einer intellektuellen Anziehung beruht, sondern auf etwas Irdischem und Gewöhnlichem, auf etwas, dem ich schon häufiger erlegen war, als ich gerne eingestand: Lust.
All diese Zeit hatte ich sie mehr als Mädchen denn als Frau gesehen. Obwohl sie drei Jahre älter war als ich, war ich immer die Welterfahrenere gewesen. Diese Wahrnehmung hatte etwas mit ihrer Naivität in zwischenmenschlichen Dingen zu tun, mit ihrem Mangel an Romantik und sexueller Erfahrung. Kein einziges Mal hatte ich mich um Rat in Bezug auf Männer an sie gewandt und war einfach davon ausgegangen, dass sie, wenn es so weit wäre, zu mir käme. Doch Tatsache war, dass sie zweiundzwanzig war, als sie starb, alt genug, um zu wissen, was sie tat, alt genug, um zu begreifen, was eine Affäre für eine Ehe bedeuten konnte. Ich versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen. Auch nur in Betracht zu ziehen, dass Lila in irgendeiner Hinsicht im Unrecht gewesen sein könnte, fühlte sich falsch an. In meiner Geschichte war sie immer frei von Schuld gewesen.
30
AM FREITAGABEND fuhr ich noch einmal zu Ben Fong-Torres.
»Rot oder weiß?«, fragte er, als er mich vor dem Aufzug empfing.
»Rot.«
»Wunderbar. Wir haben einen Syrah, den ich schon länger probieren möchte.«
Wir nahmen unsere Gläser mit nach draußen, wo eine steile Holztreppe hinunter in einen schattigen Garten mit Baumfarnen, Rosenbüschen und Bananenstauden führte. Ich konnte mir gut vorstellen, morgens in diesem Garten zu sitzen, meinen Kaffee zu trinken und ein Buch zu lesen. Ich fragte Ben, ob er und seine Frau Dianne das je taten.
»Ach, wir sind nicht so die Kaffeemenschen«, sagte er. »Wir trinken Tee.«
Ich genoss zwar durchaus hin und wieder eine gute Tasse Tee, aber in Leute, die überhaupt keinen Kaffee tranken, konnte ich mich nur schwer hineinversetzen. Zugegeben, sie waren vermutlich ruhiger, freundlicher und weniger nervös - aber einen ganzen Tag, geschweige denn einen Monat oder ein Jahr ohne Kaffee zu überstehen war mir unvorstellbar.
»Wussten Sie, dass es im Osmanischen Reich im fünfzehnten Jahrhundert ein Gesetz gab, das jeder Frau zugestand, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, wenn er sie nicht
mit ausreichenden Mengen Kaffee versorgte? Doch schon ein Jahrhundert später drohte einem für das Betreiben eines Kaffeehauses unter Umständen die Prügelstrafe. Beim zweiten Verstoß wurde man in einen Ledersack eingenäht und in den Bosporus geworfen.«
Ben nickte höflich. Mein erster Impuls, wenn die Unterhaltung ins Stocken geriet, war immer, über Kaffee sprechen. Ich machte mir Sorgen, wie ein Zahnarzt zu werden, der Wildfremden Geschichten über Wurzelbehandlungen auftischt, oder wie ein Immobilienmakler, der nicht aufhören kann, über Fluktuationen bei langfristigen Hypotheken zu reden.
»Danke, dass Sie die Kassette aufgetrieben haben«, sagte ich.
»Kein Problem. Nach unserem Gespräch entwickelte ich eine Art zwanghaften Ehrgeiz.«
»Wo war sie denn?«
»Ich hatte sie vor Jahren einem Freund geliehen. Hat mich einige Telefonate gekostet. Es stellte sich heraus, dass der Freund sie seiner Cousine geborgt hatte, die sie wiederum ihrem Sohn gab, der sie im vergangenen Jahr auf eBay anbot. Doch niemand hat sie gekauft. Stellen Sie sich die Überraschung des Jungen vor, als ich ihm über sein eBay-Konto mailte, dass ich meine Kassette zurückhaben wolle.«
Wir gingen ins Fernsehzimmer und setzten uns nebeneinander auf das Plüschsofa. Die Qualität der Aufnahme war schlecht, der Sound kratzig. Man hörte, dass sie in einem Keller entstanden war. Das erste Stück war gut, aber nicht großartig, eine langsame, an Dylan erinnernde Ballade über Vormittage auf der Haight Street, bevor die Bars öffnen. Das zweite war eine akustische Nummer, die Art von Gitarrenklang, bei der man sich gleichzeitig einsam und angeregt fühlt. Ich konnte Boudreaux beinahe im Raum bei uns spüren,
Whiskey trinkend und
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