Niemand hört dich schreien (German Edition)
gejagt, als er noch ein Kind war. Der Ort hätte für ihn eine besondere Bedeutung. Jedenfalls haben wir ihm gesagt, er soll abhauen, und das hat er getan.«
»Das ist alles?«
»Jepp. Bis eben hatte ich ihn völlig vergessen.«
»Können Sie ihn beschreiben?«
»Ehrlich gesagt hab ich dem Kerl keine besondere Beachtung geschenkt. Mittelgroß. Mit dickem Parka, Mütze und Handschuhen.«
Jacob wandte sich an Alderson. »Wem hat vor Ihnen das Grundstück gehört?«
»Das gesamte Gelände umfasst achtzig Hektar, die früheren Eigentümer waren ein Dutzend verschiedene Familien. Ich kann Ihnen eine Liste besorgen.«
»Gut. Je eher, desto besser.«
»Okay.«
Kendall und ihr Kameramann erreichten Aldersons River-Bend-Baustelle genau in dem Moment, als der Leichenwagen und der Transporter der Spurensicherung in Richtung Hauptstraße rumpelten. Auf der ungeteerten Nebenstraße voller Schlaglöcher kamen die Fahrzeuge nur im Schneckentempo voran. Der Anblick des Leichenwagens machte Kendall nachdenklich. Seit dem letzten Sommer war dies ihre erste Mordstory. Wenn die Polizei damals eine halbe Stunde später gekommen wäre, hätte man sie selbst in einem Leichenwagen abtransportiert.
Mike brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. Der Kameramann war knapp einen Meter achtzig groß und um die neunzig Kilo schwer. Er hatte ein grimmiges Aussehen, war aber einer der ausgeglichensten Menschen, die sie kannte. »Ich glaube nicht, dass ich den Transporter die Straße da runterkriege.«
»Stimmt.«
»Alles in Ordnung?« Als Mike Kendall letzten Sommer im Krankenhaus besucht hatte, waren ihm bei ihrem Anblick die Tränen gekommen. Sie war überrascht gewesen, dass ihm die Sache so nahegegangen war. Sie hatten einander kaum gekannt und damals erst seit einem Jahr zusammengearbeitet.
Bei diesem Besuch, wie bei allen anderen Besuchen von Freunden, hatte sie die Fröhliche gegeben. Sie hatte Witze über Bettpfannen und Krankenpfleger gerissen, bis die unbehagliche Stimmung und das bemühte Lächeln verflogen waren. Irgendwie war ihr klar gewesen, dass man sie nicht im Stich lassen würde, wenn sie dafür sorgte, dass die Menschen sich in ihrer Nähe wohlfühlten. Also war sie zur Meisterin der Täuschung geworden, indem sie alle glauben machte, dass es ihr gut ging.
Kendall räusperte sich. » Bitte . Und ich will jede Menge Material mit dem Leichenwagen.«
Mike warf ihr einen erleichterten Blick zu. »Wird gemacht.«
Kendall war klar, dass er sich Sorgen machte, ob sie ihrer Arbeit noch gewachsen war, genau wie Brett. Diese Story würde eine Feuerprobe für sie werden. Sie musste beweisen, dass sie im Job wirklich wieder die Alte war.
Mike schaltete den Motor aus und glitt in einer einzigen fließenden Bewegung vom Fahrersitz. Er öffnete die Seitentür, hinter der sich ein mobiles Aufnahmestudio befand, und hievte sich die Kamera auf die Schulter. Das grüne Licht ging an und signalisierte, dass die Aufnahme lief.
Kendall streifte ihre hochhackigen Schuhe ab und zog die Wanderschuhe an, bevor sie nach ihrem Block griff. Sie schaute aus dem Fenster, sah den schneebedeckten Schlamm und rutschte zur Fahrerseite hinüber. Ihr Mantel verfing sich in einem losen Plastikstück auf dem Sitz und zwang sie innezuhalten, um sich zu befreien. »Mike, wann lässt du endlich den Sitz reparieren?«
»Red mit dem König.« Jedes Mal, wenn er Brett erwähnte, klang Mikes Stimme genervt. »Er ist der Sparfuchs.«
Brett war wirklich immer um Sparsamkeit bemüht. Um Channel 10 einen Knüller zu verschaffen oder um ein paar Dollars einzusparen, ging er über Leichen. Die wenigsten mochten ihn, doch solange die Quoten gut und die Zahlen im schwarzen Bereich waren, wurde er toleriert.
Mike stand vor dem Transporter, die Kamera auf der Schulter.
Kendall stieg aus und trat hinter ihn. Der Wind wehte vom Fluss herüber und ließ sie trotz Mantel erzittern. »Läuft’s?«
»Wie am Schnürchen.«
»Sicher? Wir sind hier das einzige Fernsehteam, und ich will es nicht vermasseln.«
Mike schnitt eine Grimasse. »Nur die Ruhe. Ich kriege immer gutes Material.«
Kendall musste lächeln. »Mike, wann hast du mich schon jemals ruhig gesehen? Ich bin gut, weil ich so eine dominante Zicke bin.«
Er schaute unbewegt geradeaus. »Dazu sag ich mal nichts.«
Mike filmte, während der Leichenwagen auf die Hauptstraße abbog. Auf dem Asphalt gewann der Wagen rasch an Geschwindigkeit und verschwand einen halben Kilometer weiter hinter einer Kurve.
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