Niemand hört dich schreien (German Edition)
entschieden glamourös und vollkommen deplatziert an diesem Ort. »Schön, Sie kennenzulernen.«
Carnie verbarg ihre Überraschung nicht, als ihr Blick dem von Kendall begegnete. »Ich sehe Sie jeden Abend. Sie sind toll.«
»Danke«, gab Kendall zurück.
»Sie haben wirklich Leben und Glanz in den Sender gebracht.«
»Danke.« Kendall nahm das Kompliment ganz ungezwungen entgegen. Sie war niemals arrogant, immer liebenswürdig. Sie erinnerte Nicole an eine Königin.
Kendall hob eine Braue. »Dürfen wir uns setzen?«
Es gab noch etwas an Kendall, das Nicole bewunderte: die Art, wie sie es immer schaffte, freundlich, aber bestimmt die Führung zu übernehmen.
»Selbstverständlich«, meinte Carnie.
Nicole und Kendall nahmen auf dem Sofa Platz. Carnie setzte sich in einen Polstersessel ihnen gegenüber und zog ein Bein unter sich.
Kendall schlug mit der ihr eigenen gelassenen Eleganz die Beine übereinander. Nicole zögerte, es sich bequem zu machen. Das Baby hatte genau diesen Zeitpunkt gewählt, um auf ihre Blase zu drücken, und ihre geschwollenen Füße fühlten sich an, als würden sie aus ihren Schuhen herausquellen. Als sie endlich saß, merkte sie mit einem Mal, dass es ihr die Sprache verschlagen hatte. Was sagte eine Frau, die erwog, ihr eigenes Fleisch und Blut wegzugeben?
Nicole drehte sich zu Kendall um und versuchte, ihr ihre plötzliche Panik zu vermitteln.
Kendall schien das zu spüren, und ohne Nicoles Befürchtungen zu offenbaren, wandte sie sich an Carnie. »Sie müssen wissen, dass das alles für Nicole sehr aufreibend ist.«
Carnies Blick war sanft. Die Armreifen klingelten leise, als sie sich vorbeugte und Nicoles Arm berührte. »Ich möchte nicht, dass Sie sich beklommen oder unter Druck fühlen. Wir sind heute nur zum Reden hier.«
Nicole brachte ein schwaches Lächeln zustande und fühlte sich schon nicht mehr so in die Ecke gedrängt. »Ich weiß.«
»Ich habe kein Kind zur Adoption freigegeben, aber ich bin adoptiert, daher habe ich eine persönliche Beziehung zu dem Thema.«
Kendall bewegte sich leicht, doch ihr Gesicht zeigte keine Regung.
Nicole schluckte. »Wirklich? Sehen Sie ihre Mutter manchmal – ihre leibliche Mutter?«
»Ich habe sie noch nicht gefunden. Was Suchaufträge angeht, bin ich inzwischen so etwas wie eine Expertin, aber bei meiner Mutter hatte ich bisher kein Glück. Meine Adoption hat zwar nicht gerade auf dem Schwarzmarkt stattgefunden, aber in einer ziemlichen Grauzone.« Sie wirkte entspannt, so als hätte sie diese Geschichte schon tausendmal erzählt. »Dass ich meine Wurzeln nicht kenne, ist der Grund, weshalb ich eine so überzeugte Verfechterin der offenen Adoption bin.«
Die Enge in Nicoles Kehle verschwand nicht ganz, aber sie löste sich ein wenig. »Wissen Sie irgendetwas über sie?«
»Nur, dass sie bei meiner Geburt sehr jung war. Meine Geschäftspartnerin, Debra Weston, kann heute nicht hier sein, weil ihr Jüngster bei der Theateraufführung seiner Grundschule mitspielt. Aber Debra hat ein Kind zur Adoption freigegeben, als sie auf dem College war. Sie würde Ihnen sofort sagen, dass es das Schwierigste ist, was sie je getan hat.«
»Konnte sie mit ihrem Kind in Verbindung bleiben?«
»Es gab keinen Kontakt, bis er einundzwanzig war. Dann hat er nach ihr gesucht. Jetzt schicken sie sich gegenseitig Fotos, und seine Eltern haben ihr sogar ein Album mit Kinderbildern von ihm geschickt.«
Kendall zupfte einen imaginären Fussel von ihrem Rock. »Wie verfährt man, wenn man nach seinen biologischen Eltern sucht? Ich weiß, dass Sie die offene Adoption unterstützen, aber was wäre, wenn Nicole die Inkognito-Adoption wählen würde?«
»Dann würde der Antragsteller – das Kind oder die Eltern – einen Gerichtsbeschluss erwirken, um Einsicht in die Adoptionsunterlagen zu erhalten. Das kann ein sehr komplizierter und langwieriger Prozess sein.«
»Wie lange würde so etwas dauern?«, fragte Kendall.
»Das ist unterschiedlich, es hängt vom jeweiligen Adoptionsantrag ab. Bei Adoptionsfällen aus der Zeit vor 1989 ist es ein bisschen schwieriger, eine Einsichtnahme zu erwirken. Ich habe eine Klientin, die schon seit drei Jahren Nachforschungen betreibt.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass das so schwierig ist«, meinte Kendall. »Irgendwie hatte ich die Vorstellung, dieser Raum sei voller Akten, in die man auf Antrag Einsicht nehmen könnte.«
Carnie lächelte. »Ich wünschte, es wäre so.«
Nach außen hin wirkte Kendall locker und
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