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Niemand hört dich schreien (German Edition)

Niemand hört dich schreien (German Edition)

Titel: Niemand hört dich schreien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Burton
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entspannt. Aber Nicole hatte in den letzten Monaten gelernt, dass sich unter Kendalls kühlem Äußeren starke Emotionen verbargen. In ihrem Inneren gärte etwas.
    »Sie müssen entschuldigen«, meinte Kendall unbefangen. »Das ist eine Berufskrankheit. Ich tue mich schwer, keine Fragen zu stellen.«
    Carnie schien nichts dabei zu finden. »Kein Problem.«
    Das Geplänkel zwischen Carnie und Kendall gab Nicole Gelegenheit, sich zu fassen. Sie war weit entfernt davon, entspannt zu sein, aber sie konnte jetzt ein bisschen klarer denken. »Können Sie mir diesen Ordner mit den Familien zeigen, von dem Sie gesprochen haben?«
    Carnie lächelte. »Sehr gern.«
    Kendall beugte sich vor. »Soll ich euch allein lassen?«
    So sehr Nicole Kendalls Hilfe bis zu diesem Punkt auch zu schätzen wusste, ihr war klar, dass sie die nächsten Schritte allein gehen musste. »Wenn es dir nichts ausmacht?«
    Kendall sah sie freundlich an. »Aber gar nicht. Wir sehen uns später.«
    »Danke.«
    Kendall stand auf und verließ das Büro. Carnie nahm die Mappe vom Couchtisch. Sie war blau und mit Blumenaufklebern verziert. Auf die Vorderseite hatte jemand mit dickem Filzstift »Unsere Familien« geschrieben. »Schauen wir uns ein paar der Profile an.«
    Als Jacob an Dr. Christophers Tür klopfte, war er eine Viertelstunde zu spät und keineswegs schuldbewusst. Er hatte eine laufende Mordermittlung und keine Zeit, den Tag mit einer Seelenklempnerin zu vertrödeln.
    »Herein.« Sie klang verärgert.
    Er stieß die Tür auf. »Dr. Christopher.«
    Den Blick auf eine Zeitschrift geheftet, saß sie an ihrem Schreibtisch. Eine silberne Spange hielt das graue Haar hinten zusammen. Auf ihrer Nase saß eine Brille mit schwarzer Fassung, und sie trug einen weiten, schwarzen Pullover, Jeans und Turnschuhe.
    Dr. Christophers Büro befand sich im Bürotrakt des Mercy Hospital. Wie die Frau selbst war auch ihr Büro ordentlich, gut organisiert, klein und effizient.
    Sie stand weder auf, noch hob sie den Blick von ihrer Zeitschrift. Langsam blätterte sie eine Seite um. »Sie sind zu spät.«
    »Ja.«
    Er zog seine Jacke aus, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Jedes Mal fühlte er sich beengt, sobald er in diesem Raum war. Er nahm seinen Platz auf dem Sofa gegenüber von ihrem Schreibtisch ein und kam sich ein bisschen vor wie ein Junge, den man ins Büro des Schuldirektors zitiert hat. »Fangen wir an.«
    Sie las noch die Zeile zu Ende und klappte die Zeitschrift zu. »Und, woran arbeiten Sie zurzeit?«
    Er hatte mit einer Predigt wegen seines Zuspätkommens gerechnet und war dankbar, dass sie das Thema überging. »Eine Mordermittlung. Eine junge Frau, erwürgt und am Fluss abgelegt.«
    Sie runzelte die Stirn. »Ich habe in der Zeitung darüber gelesen. Das muss schlimm für Sie sein.«
    Er legte die Jacke weg und lehnte sich auf dem Sofa zurück, fest entschlossen, einen entspannten Eindruck zu machen. »Nicht schlimmer als für die anderen Cops, die mit dem Fall zu tun haben.«
    Ihr Blick verengte sich. »Warum sagen Sie das?«
    »Ich sehe ihre Gesichter. Die Belastung. Jeder von ihnen denkt an eine Ehefrau. Eine Schwester. Eine Tochter. Es ist schwer, einen solchen Fall nicht auf der persönlichen Ebene zu betrachten, wenn das Opfer anscheinend tugendhaft gelebt hat.«
    »Betrachten Sie ihn persönlich?«
    Sein Achselzucken sollte lässig wirken. »Mir tut es um die Frau leid. Es ist Verschwendung, so jung zu sterben, aber es gibt keine Frau in meinem Leben, die mir besonders nahesteht, also nehme ich es nicht persönlich.«
    Sie zog eine Braue hoch. »Es gibt keine Frau in Ihrem Leben, die Ihnen nahesteht?«
    Er schlug ein Bein über das andere und zog den Knöchel übers Knie. »Das wissen Sie doch.« Seine Rückenmuskulatur verspannte sich. »Das hatten wir doch schon.« Er ging nicht so weit, ihr von seiner wahren Befürchtung zu erzählen – dass er in einem Ernstfall im Dienst wieder in Schockstarre verfallen könnte, so wie letzten Sommer.
    »Ich würde einiges gern noch einmal durchgehen.«
    »Wieso? Das ist Schnee von gestern. Ich kenne eine Menge Frauen. Ich gehe gern mit ihnen aus. Aber ich habe kein Bedürfnis, mich festzulegen.«
    »Waren Sie nie verliebt?«
    Mist. Diese Fragen mochte er überhaupt nicht. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte, denn er befürchtete, sie könnte ihn als gestört abstempeln. »Wir haben doch über meine Mutter gesprochen. Sie war eine Säuferin und hat den Schnaps mehr geliebt als mich. Es war

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