Niemand hört dich schreien (German Edition)
umarmte Nicole. »Sieh zu, dass es sich nicht herumspricht, dass ich nett sein kann. Ich habe einen Ruf zu wahren.«
Nicole lachte und wischte sich eine Träne weg. »Ich schwör’s.«
Dreißig Minuten später kam Kendall angezogen und ausgehbereit die Treppe hinunter. Inzwischen bedeckten Abdeckplanen den Küchenboden und den Durchgang zum Flur. Ab und zu ertönte wildes Gehämmer aus der Küche. Sie seufzte. Fremde Leute im Haus waren ihr zuwider. Sie schätzte ihre Privatsphäre. Aber wenn sie eine neue Küche wollte, musste sie Opfer bringen.
Nicole saß im Wohnzimmer. Sie hatte ihren Mantel an und klopfte rhythmisch mit dem Fuß auf den Boden. Kendall musste an die Frau denken, die sie selbst zur Adoption freigegeben hatte. War ihre leibliche Mutter auch so nervös gewesen, als Kendall in ihrem Bauch gestrampelt hatte und sie daran dachte, sie wegzugeben?
Traurigkeit stieg in Kendall auf, und nur mit Mühe gelang es ihr, sie abzuschütteln. So langsam vermutete sie, dass die Gründe, aus denen sie Nicole half, gar nicht so uneigennützig waren, wie sie zuerst gedacht hatte. Nicoles Bekanntschaft und der Versuch, sie zu verstehen, würde ihr möglicherweise helfen, ihre eigene leibliche Mutter zu verstehen.
Kendall holte ihren Mantel und schlüpfte hinein. Zwischen den Hammerschlägen rief sie: »Todd, wir sind jetzt weg!«
»Alles klar, Ms Shaw!«, rief er zurück, ohne auch nur einen Blick aus der Küche zu werfen. »Wir sehen uns morgen!«
Kendall und Nicole verließen das Haus durch die Vordertür und gingen über den schmalen Gehweg neben dem Haus zur Garage, die weiter hinten lag. Jede stieg in ihr Auto, und schon bald folgte Kendall Nicole in Richtung Monument Avenue. Wenige Minuten später näherten sie sich zu Fuß einem unscheinbaren Gebäude, um dessen kleine Rasenfläche ein schmiedeeiserner Zaun verlief. Fünf Stufen führten zu einer überdachten Veranda und einer schwarz lackierten Tür, in deren Mitte sich ein Türklopfer aus angelaufenem Messing befand. Auf einem Schild neben der Tür stand Serenity Familienberatung .
Nicole schluckte und starrte auf die Tür. »Sie haben sehr gute Referenzen.«
»Ich weiß.« Kendall lächelte. »Ich habe sie überprüft.«
»Wirklich?«
»Ich habe viele Beziehungen. Das ist manchmal ganz praktisch.«
»Und du hast nur Gutes gehört, so wie ich?« Hoffnung und Furcht mischten sich in Nicoles Worte.
Kendall sah ihr direkt in die Augen. »Nur Gutes. Wenn ich etwas Komisches gehört hätte, hätte ich es dir gesagt.« Sie hakte Nicole unter. »Schauen wir mal, was sie zu sagen haben.«
Nicole legte eine Hand auf ihren Bauch. »Okay.«
Sie gingen die Stufen hinauf.
Das Büro der Beraterin war ganz auf Behaglichkeit hin eingerichtet, wie Nicole auffiel. Ein Hochflorteppich, blassblaue Wände, Bilder von glücklichen Kindern und Familien, Regale voller Bücher zum Thema Kinderpsychologie und Adoption. In einer Ecke stand sogar ein Korb mit Stofftieren und Spielsachen.
Aber Nicole war gar nicht behaglich zumute. Es war, als würde sie von Tausenden Nadeln gepikst. Sie fühlte sich als Feigling und Versagerin. Ihr Verstand sagte ihr, dass Adoption eine gute, vernünftige Entscheidung war. Aber Verstand und Gefühl stimmten eben nicht immer überein.
Die Beraterin, Carnie Winchester, erhob sich und kam sofort um ihren Schreibtisch herum, um Nicole und Kendall zu begrüßen. Sie war mittelgroß, hatte schulterlanges, welliges rotes Haar und einen zarten, glatten Teint. Eine Hüftjeans, ein knappes T-Shirt und die Armreifen an ihrem linken Handgelenk ließen sie sehr lässig wirken. Alles an Carnie widersprach Nicoles Vorstellungen von einer Adoptionsberaterin. Aus irgendeinem Grund hatte sie eine gesetzte Person erwartet, nicht eine Frau, die ihrem eigenen Alter so nahe kam.
»Nicole«, begrüßte Carnie sie und streckte ihr die Hand entgegen. Ihre Stimme war weich und beruhigend. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Nicole schüttelte ihr die Hand. »Danke. Wow. Ich hatte nicht gedacht, dass Sie so jung sind.«
Carnie lächelte. »Tut mir leid, dass ich so salopp angezogen bin, aber ich habe heute Abend das Treffen meiner Teeniegruppe, und es bleibt keine Zeit, nach Hause zu gehen und mich umzuziehen. Wir spielen Völkerball.«
Nicole hatte keine Mühe, sich Carnie mit den Mädchen vorzustellen, bestimmt konnte sie sehr gut mit ihnen umgehen. »Kein Problem. Das ist meine Freundin, Kendall Shaw.«
Kendall streckte die Hand aus. Sie wirkte
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