Niemand hört dich schreien (German Edition)
ging ihr immer noch nach. Irgendwie erinnern Sie mich an Jackie.
Der beiläufige Kommentar hatte sie mit brutaler Deutlichkeit daran erinnert, dass sie nichts über ihre eigene Vergangenheit wusste. Sie hatte keine Ahnung, wo sie herkam. Womöglich hatte sie Verwandte in der Nachbarschaft, ohne es zu wissen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür, da sie nicht sicher war, ob noch Abdeckplanen oder Überbleibsel von den Renovierungsarbeiten herumlagen. Sie schaltete das Licht an und fand einen ordentlich gefegten Eingangsbereich vor, an die Wand geschobene Sägeböcke und sorgsam aufgeräumtes Werkzeug in einem zerdellten roten Werkzeugkasten. Todd war wirklich so vorbildlich, wie ihr Architekt gesagt hatte.
Ihre Absätze klapperten, als sie in die Küche ging. Die Oberschränke waren abmontiert, und alle Elektrogeräte waren fort, abgesehen vom Kühlschrank, der zwar von der Wand abgerückt, aber noch eingestöpselt war. Die Mikrowelle stand auf einem provisorischen Tisch, der aus Sägeböcken und einer Spanplatte bestand. »Danke, Todd.«
Auf der Treppe erklangen Nicoles Schritte. Sie kam von oben herunter und tauchte kurz darauf in der Küchentür auf.
Ihr dunkles Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Sie trug einen blauen Bademantel, der nachlässig über ihrem vorstehenden Bauch zusammengebunden war. Unter dem Saum lugten flauschige Pantoffeln hervor. Sie sah blass aus.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du wohl bist«, sagte sie.
Kendall zog den Mantel aus und hängte ihn in den Schrank. »Wieso schläfst du denn nicht?«
»Ich komme einfach nicht zur Ruhe. Das Baby hüpft auf meiner Blase herum.«
Normalerweise warf Kendall ihre Handtasche auf den alten Küchentisch ihrer Mutter, doch der war verschwunden. Sie verspürte einen Anflug von Panik. »Was hat Todd mit dem Tisch angestellt?«
»Ist im Keller.«
»Gut.« Erleichtert verstaute sie die Tasche im Flurschrank und machte sich im Geist eine Notiz, wo sie sie hingetan hatte. »Todd hat also den ganzen Tag gearbeitet?«
»Ich habe ihn am Spätnachmittag gesehen. Da hat er gerade aufgeräumt. Scheint ein netter Typ zu sein.«
Kendall stemmte die Hände ins Kreuz und dehnte sich. Ihre verkrampften Muskeln lockerten sich, und die Anspannung verflog. »Hoffentlich arbeitet er weiterhin so hart. Es wäre scheußlich, wenn er schlappmachen und uns im Stich lassen würde.«
Nicole rieb sich geistesabwesend den Bauch. »Machst du das immer?«
»Was denn?«
»Erwarten, dass die Leute dich im Stich lassen.«
Das saß. »Nicht die Leute. Handwerker. Das ist etwas anderes.«
Nicole zog eine Braue hoch. »Wenn du meinst.«
Die Richtung, in die die Unterhaltung ging, gefiel Kendall gar nicht. »Und wieso bist du nun wirklich noch wach?«
»Bis vor einer halben Stunde bin ich die Profile der Adoptiveltern durchgegangen. Ich habe so lange darin gelesen, bis mir die Augen wehtaten. Wahrscheinlich treibe ich Carnie in den Wahnsinn.«
»Wieso?«
»Weil ich ihr Löcher in den Bauch frage. Die Frau hat eine Engelsgeduld.«
Kendall folgte Nicole ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lag eine dicke Mappe. Kendall verspürte eine seltsame Enge in der Brust. »Sind das die Familien?«
»Hmmm. Dutzende, und alle wollen unbedingt ein Baby.«
Sie setzten sich aufs Sofa, und Kendall blätterte in der Mappe. Jedes Profil begann mit den wichtigsten Daten: Alter, Zahl der Ehejahre, Kinder, Berufe und so weiter. Außer den Fotos von den Paaren gab es noch welche von ihren Häusern, ihren Haustieren und ihren Kindern – all das, was eine werdende Mutter verlocken könnte, sie auszuwählen.
Kendall fragte sich, ob wohl einmal eine Adoptionsagentur ein ähnliches Profil von Irene und Henry Shaw gehabt hatte. Ob ihre leibliche Mutter auch in einer solchen Mappe geblättert und die beiden ausgesucht hatte?
Sie bemühte sich, ihre Stimme neutral zu halten. »Gibt es welche, die dir gefallen?«
»Sie scheinen alle prima zu sein. Aber es ist einfach erdrückend.« Nicoles Augen wurden groß, und sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Dieses Kind schläft einfach nie. Manchmal glaube ich, dass sie den Stress spürt, unter dem ich stehe.«
Kendall blätterte eine Seite um und gelangte zum Profil eines strahlend lächelnden Paares um die dreißig. Zusammen mit ihrem Golden Retriever standen sie vor einem mit grauen Schindeln verkleideten Haus. Die Bäume waren grün und die Beete voller Narzissen. »Ich habe mal gehört, dass Babys wirklich die Gefühle ihrer Mütter
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