Niemand hört dich schreien (German Edition)
untersuchen lassen. Und ich werde Ihre Jagdkumpel auftreiben und mit Ihnen reden, egal, wie lange es dauert.«
White fuhr sich mit zitternder Hand durchs Haar. Er schluckte schwer und sank auf einen Stuhl, der in der Nähe stand. »Ich hatte keine Reifenpanne.«
Jacob straffte sich, sagte aber nichts.
White atmete gepresst aus. »Ich hatte keine Reifenpanne, und meine Freunde werden Ihnen sagen, dass ich erst um kurz vor zwei dort war. Ich war bei meiner Freundin. Ihr Name ist Kelly Green.«
Jacob schrieb sich den Namen auf.
»Sie ist schwanger. Deshalb bin ich zu ihr gefahren. Sie fühlte sich an dem Tag nicht wohl. Ich bin erst gegen elf bei ihr losgefahren.«
»Warum haben Sie uns nicht früher von ihr erzählt?«
»Ich wollte sie nicht in diesen Schlamassel mit hineinziehen.«
»Ist Kelly der Grund, weswegen Sie und Jackie an Weihnachten gestritten haben?«, fragte Zack.
»Ja. Ich habe Jackie gebeten, in die Scheidung einzuwilligen. Seit unseren verkorksten Flitterwochen war unsere Ehe eine Farce gewesen. Kelly wollte bei der Geburt des Kindes verheiratet sein. Uns lief die Zeit davon.«
»Jackie wollte nicht«, vermutete Jacob.
»Nein. Sie sagte, eine Scheidung komme nicht infrage. Sie weigerte sich, eine richtige Ehefrau zu sein, aber sie wollte mich auch nicht gehen lassen. Meinte, die Ehe sei ein Sakrament. In guten wie in schlechten Zeiten. Wie zum Teufel hätte ich denn wissen sollen, dass sie komplett frigide war?«
»War sie mal bei einem Therapeuten?«
»Ja. Nach fünf Monaten teurer Sitzungen erzählte sie mir, bei der Hypnose sei herausgekommen, dass sie als Kind missbraucht worden war.«
»Kennen Sie den Namen des Therapeuten?«
»Thompson, glaube ich.«
Jacob sah ihn gespannt an. »Und wer hat sie missbraucht?«
»Sie sagte, sie erinnere sich nicht daran. Aber ich wusste, dass sie sich erinnerte. Sie wollte es mir nur nicht sagen.«
Jacob konnte nicht beurteilen, ob White die Wahrheit sagte oder ihnen eine weitere Lüge auftischte. »Ich brauche Kelly Greens Telefonnummer. Und den vollen Namen von Jackies Therapeuten.« Jacob reichte White ein Blatt Papier und einen Stift.
Whites Hand zitterte, während er schrieb. »Ich habe Jackie nicht umgebracht.«
Jacob klärte White über seine Rechte auf.
»Was zum Teufel soll das?«, brüllte White. »Ich habe es nicht getan.«
»Besorgen Sie sich einen Anwalt, Mr White.«
Kendall hatte einen Durchbruch in der Jackie-White-Story. Phil White hatte sie angerufen und in ein Gespräch eingewilligt.
Trotzdem hatte sie miserable Laune, als sie um kurz nach elf im Sender ankam. Sie hatte sich heute besonders viel Mühe mit ihrem Äußeren gegeben und trug ein dunkles Wickelkleid, schwarze Stiefel und eine silberne Halskette. Das Haar hatte sie zu einer Banane geschlungen und sich sorgfältig geschminkt, um sicherzustellen, dass von den schwarzen Ringen unter ihren Augen nichts zu sehen war.
Der Traum suchte sie jetzt mehrmals in der Woche heim, und sie glaubte immer fester daran, dass er ein Schlüssel zu ihrer Vergangenheit war.
Dass die Träume häufiger vorkamen, musste mit dem Besuch bei der Adoptionsagentur zusammenhängen. Seit dem Termin dort konnte sie nicht aufhören, über ihre leibliche Mutter zu grübeln. Hatte sie mit der Entscheidung gerungen, ihr Kind zur Adoption freizugeben, so wie Nicole jetzt damit rang? Oder hatte sie Kendall weggegeben, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen?
Als Teenager hatte Kendall sich heimlich Tagträumen über die unbekannte Frau hingegeben, die sie geboren hatte. In dem einen Szenario war ihre leibliche Mutter obdachlos und nicht in der Lage, sie bei sich zu behalten. In einem anderen war sie ein reicher Filmstar, der von berechnenden Agenten gezwungen wurde, sie wegzugeben. In allen Szenarios blieb eines immer gleich: Ihre Mutter hatte sich nicht freiwillig von ihr getrennt.
»Warum forschst du denn nicht einfach nach, du Feigling?«, murmelte sie. »Bereite den Fragen endlich ein Ende.«
Sie kannte die Antwort. Die Furcht hielt sie von der Suche ab. Sie fürchtete sich vor dem, was sie finden würde.
»Reiß dich zusammen, Kendall. Das Heute zählt. Jackie Whites Story zählt.«
»Selbstgespräche sollen angeblich ein Zeichen sein, dass man übergeschnappt ist.« Mike hatte den Kopf in ihr Büro gesteckt.
Kendall straffte sich, beschämt, dass er sie dabei ertappt hatte, wie sie vor sich hinmurmelte. »Man hat mir schon Schlimmeres unterstellt. Bist du so weit?«
Er verneigte sich.
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