Niemand hört dich schreien (German Edition)
abgestattet.
Als er letztes Jahr mit Sharon zusammen gewesen war, war der Kühlschrank immer gut gefüllt gewesen. Sie liebte es, einzukaufen, zu kochen und zu essen. Und sie hatte einen Wahnsinnskörper. Sie hatte Leben in seine Bude gebracht, und ihm war klar gewesen, dass er sich womöglich in sie verlieben könnte. Das hatte ihm eine Heidenangst eingejagt. Liebe bedeutete Verletzlichkeit. Er hatte Schluss gemacht.
Sharon war am Boden zerstört gewesen. Sie hatte geweint, und er hatte die verlaufende Wimperntusche angestarrt und sich beschissen gefühlt. Er hatte sich von ihr als Feigling und Mistkerl beschimpfen lassen, trotzdem hatte er nicht versucht, es wieder einzurenken.
Für Dr. Christopher wäre dieser Vorfall ein gefundenes Fressen gewesen. Zweifellos hätte sie ihn mit seiner Mutter in Verbindung gebracht.
Jacob öffnete den Kühlschrank und stellte fest, dass er noch drei gekochte Eier und eine Packung Saft hatte. Er schälte die Eier, aß sie gleich über der Spüle und trank den restlichen Saft aus der Packung.
Vor seinem inneren Auge tauchte Kendall Shaws Gesicht auf. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie morgens ihren Saft aus der Packung trank. Wenn sie hier stünde, würde sie ihm wegen seiner Nachlässigkeit die Hölle heißmachen. Bei der Vorstellung musste er grinsen. Wenn sie wütend war, funkelten ihre Augen, was ziemlich aufregend aussah.
Das Wissen, dass es sie ärgern würde, ließ den Saft nur noch süßer schmecken.
Er warf die leere Packung in den Mülleimer unter der Spüle und zog seine Lederjacke an. Dann holte er seine Neunmillimeterpistole aus der verschlossenen Kassette im Flurschrank und befestigte sie an seinem Gürtel. Gerade hatte er sein Handy von der Ladestation genommen, als es klingelte. »Warwick.«
»Hier ist Zack.« Er klang hellwach. »Die Zentrale hat angerufen. Ein Ladenbesitzer hat eine ermordete Frau gefunden. Ihre Leiche wurde hinter seinem Laden deponiert. Sie ist erwürgt worden.«
Jacob erstarrte. »Hat irgendjemand etwas gesehen?«
»Im Moment weiß ich nicht mehr als du.« Zack gab ihm die Adresse durch.
»Hast du Ayden angerufen?«
»Noch nicht.«
»Sag ihm Bescheid. Ich bin unterwegs.«
Eine zweite ermordete Frau bedeutete, dass die Sache mit einem Mal bedeutend ernster war. Jacob klappte das Telefon zu und verließ sein Wohngebäude über das Treppenhaus. Als er quer über den Parkplatz zu seinem Wagen ging, einem Crown-Vic-Polizeifahrzeug, stach die kalte Luft in seine Lunge.
Die Windschutzscheibe war vereist. Er glitt hinter das Lenkrad und drehte die Heizung voll auf, dann stieg er wieder aus und kratzte die Scheibe frei.
Zwei erwürgte Frauen. Die Presse würde sich auf diesen Fall stürzen. Die Presse. Kendall. Mist.
10
Sonntag, 13. Januar, 10:00 Uhr
Die Fahrt auf der I-64 durch die Stadt dauerte zwanzig Minuten. Jacob nahm die Ausfahrt 195 und bog dann auf die Laburnum Avenue Richtung Osten ab. Schon bald konnte er die blauen Lichter der Streifenwagen sehen, die auf dem Schotterparkplatz neben einem kleinen Laden namens »Ned’s« standen. Er parkte hinter dem weißen Transporter der Spurensicherung und holte Gummihandschuhe aus dem Kofferraum.
Das »Ned’s« befand sich in einem einstöckigen Gebäude, das mit dunkelrot gestrichenen Holzpaneelen verkleidet war. In einem großen Schaufenster hing Reklame für Bier, Zigaretten und Lotteriescheine. Die Beamten hatten den Laden geschlossen und die morgendlichen Kunden weggeschickt.
Jacob ging zu dem jungen Beamten hinüber, der am gelben Absperrband stand und sich zum Schutz gegen den Wind tief in seiner Jacke verkroch. »Hallo.«
Der Jüngere gab ihm die Hand. »Detective Warwick.«
»Wo ist die Leiche?«
Der Beamte stampfte mit den Füßen, um sie aufzuwärmen. »Neben der Mülltonne. Liegt noch nicht lange da.«
Jacob runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie das?«
»Ned, der Ladenbesitzer, meinte, als er um fünf das Geschäft aufgemacht hat, sei sie noch nicht da gewesen. Und als er um halb zehn rausgegangen ist, um Kartons wegzuwerfen, lag sie auf einmal dort.«
»Hat er irgendwas gesehen?«
»Er sagt, nein. Aber er war ziemlich fertig. Meinte, er bräuchte erst mal eine Zigarette.«
»Ich rede später mit ihm. Sehen Sie zu, dass er nicht weggeht.«
»Wird gemacht.«
Jacob bog um die Ecke und erblickte Tess, die gerade Fotos von der Leiche schoss. »Kann ich näher ran?«
Sie ließ sich nicht unterbrechen. »Klar. Du weißt ja Bescheid.«
Er duckte sich unter
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