Niemand hört dich schreien (German Edition)
die Leiche auf die Seite drehte. Sie schob das Hemd der Toten nach oben. Der untere Rücken der Frau war mit blassblauen Flecken übersät.
Tess sah ihn an. »Sie saß auf einem Stuhl, als sie gestorben ist. Aber sie hat kürzer dort gesessen als die Erste. Wer auch immer das getan hat, hat sie nicht so lange bei sich behalten.«
»Vielleicht hatte er es eilig.«
»Stimmt.«
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Opfern und Kendall musste zur Sprache gebracht werden. Bei einem Opfer konnte man die Übereinstimmung noch als Zufall abtun, aber nicht bei zweien. Jacob musste mit Kendall reden.
Im Laufe des vergangenen Jahres hatte er ein paar Fakten über sie zusammengetragen. Er hatte sich nie besonders angestrengt, um an Informationen über sie zu kommen, aber wenn jemand sie erwähnte, hörte er zu.
Ihre Eltern waren tot. Keine Geschwister. Model. Liebte Paris. Hatte mehrere Preise gewonnen. Er hatte nicht vor, hier mit ihr zu sprechen. Eine Unterhaltung zwischen ihnen beiden würde nicht unbemerkt bleiben, und er wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Er würde warten. Bis er mit ihr alleine war.
Kendall verbrachte den Tag überwiegend mit der Befragung von Passanten, Ladenbesitzern und anderen, die vielleicht etwas gesehen haben könnten. Die Leute redeten bereitwillig mit ihr, ließen sich aber ausnahmslos über Details aus, die sich nicht zu einer Story verarbeiten ließen.
Um vier Uhr hatten sie und die anderen Medienleute erste Informationen vom Pressechef der Polizei erhalten. Aber die Details waren mager. Weiblich. Weiß. Die Todesursache musste noch ermittelt werden.
Ein paarmal hatte sie bei Phil White angerufen, weil sie einen Kommentar von ihm wollte, aber er war nicht ans Telefon gegangen.
Als sie um fünf zum Sender zurückkehrte, war sie müde, hungrig und frustriert. Es würde ein langer Abend werden, wenn sie aus den wenigen Bruchstücken eine Story basteln wollte.
Kendall ging am Empfang vorbei und den Gang entlang zu ihrem Büro. An der Tür stutzte sie. Detective Jacob Warwick stand mitten im Raum.
Warwick betrachtete die Bilder an den Wänden und hielt den Briefbeschwerer von ihrem Schreibtisch in der Hand.
Er sah sich ihr Zimmer an. Wenn sie das Büro von jemand anderem betrat, tat sie genau das Gleiche. Stil und Möblierung verrieten eine Menge über einen Menschen. Ordnungsfanatiker. Chaot. Sammler. Hobbys. Sie hatte darauf geachtet, sich so einzurichten, dass es lässig und kultiviert wirkte. Das gehörte alles zu dem Bild von Kendall Shaw, das sie in den letzten Jahren aufgebaut hatte. Seltsamerweise kam sie sich auf einmal wie eine Betrügerin vor.
»Detective.« Sie wusste nicht recht, ob dies ein Glücksfall war oder nicht.
Ohne besondere Eile drehte er sich um. Offenbar machte es ihm nichts aus, dass sie ihn dabei ertappt hatte, wie er ihre Bilder anstarrte. Er legte den Briefbeschwerer wieder hin. »Es wurde auch langsam Zeit.«
Kendall straffte die Schultern und lächelte. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihre Nerven flatterten. »Ist das ein Freundschaftsbesuch, Detective, oder wollen Sie mir ein Interview geben?«
Bei näherem Hinsehen fielen ihr die dunklen Ringe unter seinen Augen auf. Sie hätte darauf wetten mögen, dass er und sein Partner rund um die Uhr gearbeitet hatten, seit die erste Leiche gefunden worden war. »Weder noch.«
Sie war verblüfft. »Okay. Warum sind Sie hier? Ich habe eine Story zu schreiben.«
Warwick zögerte, sein Blick verweilte auf einem Foto von Kendall und ihren Eltern. »Auf dem Bild sehen Sie glücklich aus.«
»Das ist bei der Feier zu meinem Highschool-Abschluss entstanden.« Wieso nur hatte sie das Bedürfnis, ihm das zu erzählen? »Es ist das letzte Bild von uns dreien zusammen. Dad ist drei Monate später gestorben.«
Ein Anflug von Mitgefühl lag in seinen Augen. Er hatte einen Ziehvater geliebt und verloren, der ihm genauso viel bedeutet hatte wie ihr Vater ihr. Ein Elternteil zu verlieren, verursachte eine Wunde, die nie ganz heilte, egal, wie viel Zeit verging. Mit einem Mal empfand Kendall Mitleid mit Warwick.
»Sie sehen Ihren Eltern gar nicht ähnlich.«
Kendall räusperte sich. »Mom meinte immer, ich sei ein Gensprung zu einer früheren Generation.« Die Lüge ihrer Mutter war so oft erzählt worden, dass sie Kendall ganz selbstverständlich über die Lippen kam. »Warum sind Sie hier?« Langsam klang ihre Stimme ungeduldig.
Er sah ihr direkt in die Augen. »Was ich Ihnen gleich sagen werde, muss
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