Niemand hört dich schreien (German Edition)
Augenblick lang dachte sie, Mrs Thornton hätte sie nicht gehört, und war versucht, ein zweites Mal zu klingeln. Sie wischte sich die feuchten Hände am Rock ab.
Dann bewegten sich die Spitzenvorhänge hinter einem großen Panoramafenster zu ihrer Linken. Sekunden später wurde die Haustür geöffnet.
Im Eingang stand eine groß gewachsene, korpulente Frau. Sie trug eine Brille mit Drahtgestell, und ein grauer Pagenkopf umrahmte ihr rundes Gesicht. Sie begrüßte Kendall mit einem breiten Lächeln. »Kendall Shaw. Was für eine Augenweide!«
Kendall lächelte. »Mrs Thornton.«
Die Sturmtür quietschte, als sie geöffnet wurde. »Sagen Sie Jenny zu mir. Nun kommen Sie schon ins Warme.«
Kendall trat über die Schwelle, und ein Schwall sehr warmer Luft schlug ihr entgegen. Das Haus roch nach Mottenkugeln und Spiegeleiern. »Danke, dass ich herkommen durfte.«
Jenny schloss die Haustür und bedeutete Kendall, auf einem Sofa Platz zu nehmen, auf dem eine gehäkelte Decke lag. »Ich war wie vom Donner gerührt, als Sie angerufen haben. Kann ich Ihnen etwas zu essen oder zu trinken anbieten?«
»Nein, danke.« Kendall setzte sich.
Jenny machte es sich ihr gegenüber in einem Ohrensessel bequem. »Es tut mir leid, dass ich nicht zur Beerdigung Ihrer Mutter kommen konnte. Ich war damals im Krankenhaus.«
»Die Blumen, die Sie geschickt haben, waren sehr hübsch.« Kendall gab sich Mühe, sich ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen, aber Small Talk zu betreiben, fiel ihr im Moment nicht leicht. »Ich hoffe, es geht Ihnen besser.«
»Ja, danke der Nachfrage.« Jenny grinste. »Aber Sie sind nicht hergekommen, um mit einer alten Dame über ihr Herz zu sprechen.«
Erleichtert über ihre Direktheit schüttelte Kendall den Kopf. »Nein. Ich bin wegen meiner Mutter und meiner Adoption gekommen.«
Jenny schluckte. »Irene und ich waren früher so gute Freundinnen. Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal nicht mehr befreundet sein würden, aber als sie auf die andere Seite des Flusses gezogen ist, haben wir uns einfach aus den Augen verloren.«
»Warum ist sie weggezogen?«
»Sie sagte, dass ihr und Ihrem Dad die Schulen dort besser gefielen.« Jenny schüttelte den Kopf. »Es steckte mehr dahinter, aber Irene wollte es mir nicht sagen, obwohl ich sie bedrängt habe.« Jenny griff in ihre Tasche und holte ein Bündel Fotos hervor. »Die habe ich gleich nach Ihrem Anruf ausgegraben.«
Kendall nahm die Fotos entgegen. Sie zeigten sie und ihre Mutter. Kendall konnte darauf nicht älter als drei Jahre sein. Irene strahlte, aber das kleine Kind auf ihrem Arm machte ein finsteres Gesicht und starrte scheinbar verloren in die Ferne.
»Die habe ich gemacht.«
Kendall war zumute, als hielte sie eine kostbare Verbindung zu ihrer Vergangenheit in Händen. Sie zeichnete den Umriss des Kindes nach, das Irene auf dem Arm hatte. »Wieso sehe ich so traurig aus?«
Jenny veränderte ihre Sitzposition, als wüsste sie nicht recht, was sie antworten sollte. »Ich weiß es nicht. In den ersten Wochen bei Irene waren Sie sehr anhänglich und quengelig. Sie sagte, Sie würden viel weinen und hätten schreckliche Trotzanfälle.«
Kendall rutschte auf dem Sofa nach vorn. »Können Sie mir etwas über meine leiblichen Eltern sagen? Ich war bei der Adoptionsagentur, aber eine Suche wird Monate in Anspruch nehmen, vielleicht sogar Jahre. Hat Mom irgendetwas gesagt?«
»Ihre Mom und ihr Dad haben jahrelang versucht, Kinder zu bekommen. Hat Ihre Mutter Ihnen je von dem Baby erzählt, das sie lange vor Ihrer Geburt hatte?«
Kendall schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Als sie zwanzig war, bekam Irene ein Kind. Nur ein Jahr, bevor sie Ihren Dad heiratete. Es wurde außerehelich geboren. Sie sagte, das Baby sei wenige Tage nach der Geburt an einem Herzfehler gestorben. Irene konnte nie wieder schwanger werden.«
Kendall betrachtete eins der Bilder von Irene. In den lächelnden Augen lag keine Spur von Traurigkeit. »Ich hatte keine Ahnung.«
»Es brach ihr das Herz, kein Kind zu haben. Sie wollte eins adoptieren, aber Ihr Dad wollte nicht. Sie hat ihn jahrelang bearbeitet, um ihn umzustimmen. Schließlich gab er nach, und sie reichten den Antrag ein. Sie dachten, es würde Jahre dauern, bis sie ein Baby adoptieren könnten, doch dann erhielten sie ganz überraschend mitten in der Nacht einen Anruf wegen eines kleinen Mädchens, das eine Pflegefamilie brauchte. Sie fuhren auf der Stelle los und bekamen Sie.« Jenny lächelte. »Ich hatte Ihre
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