Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Frauen. Und nichts von dem, was in der Welt vorging. Ich hatte niemals eine Zeitung gelesen ...
Und so saß ich auf einer Bank auf den Champs-Élysées, als sich eine blonde junge Frau neben mich setzte. »Salut. Ist hier noch frei?«
»Ja, natürlich. Wie heißt du?«
»Warda.«
»Aber das ist ja ein arabischer Vorname!«
Sie war algerischer Abstammung, und wir kamen uns schnell näher. »Man sieht sofort, dass du neu bist in Paris. Woher kommst du?«
»Rate mal!«
»Aus Marokko?«
»Nein. Aus einem Land, auf das du nie kommen wirst.«
»Aus Tunesien? Ägypten? Jordanien? Aus dem Libanon?«
»Nein! Aus einem strategisch wichtigen Mittelmeerland. Na?«
»Aus Algerien, wie ich?«
»Nein!«
»Also dann weiß ich es nicht.«
»Aus Libyen!«
»Ah, Gaddafi! Genial! Der Typ ist einer meiner Helden. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr er mich fasziniert! Los, erzähl!«
»Du bewunderst Gaddafi?« Ich hätte am liebsten geheult. »Aber er ist ein Schurke! Ein Betrüger!«
»Machst du Witze? Hast du seine Reden gehört? Hast du gesehen, wie er Amerika herausfordert? Er ist ein echter Araber! Und ein wahnsinniges Charisma hat er!«
Wir setzten das Gespräch in einem Café fort, wo ihr Freund zu uns stieß, der Türsteher in einem Lokal in Montreuil war, La Marquise. Da sie am selben Abend dorthin gehen wollten, schlugen sie mir vor, mit ihnen zu kommen. Das fand ich nett. Was für ein Glück!, sagte ich mir. Es war ein libanesisches Restaurant, das sich nach Mitternacht in einen Nachtklub verwandelte, mit Livemusik und orientalischer Tänzerin. Ach! Ich fühlte mich plötzlich gar nicht mehr so fremd hier! Alles sprach Arabisch, und das Publikum, fröhliche, aufgeschlossene Leute in Amüsierlaune, schien sich vor allem aus reichen Orientalen zusammenzusetzen.
»Sieh mal nach rechts«, flüsterte Warda mir zu. »Da am Nachbartisch beobachten dich einige Männer.«
»Ja, und? Ich hab keine Lust, dahin zu gucken!«
»Ach, sei doch kein Spielverderber! Wenn du ein bisschen charmant zu ihnen bist, bezahlen sie uns die Getränke und ein Essen. Komm tanzen!«
Widerstrebend und ratlos folgte ich ihr. Wozu verleitete sie mich da? Männer kamen zu uns auf die Tanzfläche, baggerten uns an, wurden immer draufgängerischer, manche stecktenuns sogar Geldscheine zu, wie man es bei Berufstänzerinnen macht. Ich stürzte zu Warda hin. »He, so was will ich nicht!« Aber da bemerkte mich der Inhaber des Lokals und kam auf mich zu: »Stimmt es, dass du Libyerin bist?« Er nahm das Mikro. »Meine Damen und Herren, ich grüße Libyen und Oberst Gaddafi!« Ich wurde blass. Und der Typ fuhr fort: »Na, komm schon! Lass uns zusammen ein Lied auf den Ruhm des Obersts singen!« Und er stimmte eines jener grotesken Lieder an, die in Libyen andauernd aus allen Lautsprechern schallten und im Radio gespielt wurden: »O unser Führer, wir folgen dir ...« Ich hätte im Boden versinken mögen. War es möglich, dass Gaddafi mich auch hier noch einholte? Ich lief zur Toilette und schloss mich ein, um zu weinen.
Völlig verstört igelte ich mich eine Woche lang in meinem Zimmer ein. Ich ging nur auf die Straße, um Zigaretten und Telefoneinheiten zu kaufen. Die Angst war wieder da. Gaddafis Schatten würde mich überallhin verfolgen. Bab al-Aziziya hatte Augen und Ohren auf dem ganzen Planeten. Seine Spione hatten schon am anderen Ende der Welt gemordet. War es realistisch, zu hoffen, dass man aus seinen Klauen entkommen konnte? Kaum war ich in Paris, fühlte ich mich schon in einer Sackgasse. Ja, und dann lief eines Abends eine Ratte durch mein Zimmer. Es war ein Schock. Ich packte meine Siebensachen, lief zur Rezeption, bezahlte meine Rechnung und rief in meiner Not Habib an. »Komm für diese Nacht zu mir, morgen sehen wir weiter.« Ich ging zu ihm, er brachte mich in einem Zimmer unter, aber morgens um vier schlüpfte er in mein Bett. Papas Freund! ... Ich schrie auf, griff meine Tasche, stürzte die Treppe hinunter. Die Straßelag verlassen da, und es war eisig kalt. Wohin sollte ich bloß gehen? Ich dachte an Warda und wählte ihre Nummer. Keine Antwort. Ich lief zur Metro und wartete, dass die Station öffnete, um mich auf eine Bank zu setzen. Dort schreckte mich ein stockbetrunkener Clochard auf. Ich weinte. Ich rief Hicham an, der ebenfalls nicht abnahm. Der Freund meines Vaters versuchte derweil wie verrückt, mich zu erreichen.
Ich flüchtete in ein Café an der Porte de Choisy, das gerade öffnete. Ich bestellte einen Kaffee,
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