Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Zeichen verabschiedet, bedrückt und voller Angst. »Wenn Gott mir das Leben gibt« – ich wusste, dass er dachte: Wenn man mich nicht umbringt –, »werde ich dir noch mehr Geld schicken.« Ich habe geweint, als ich ihm Adieu sagte.
Habib fand ein möbliertes Zimmer für mich in einem Hotel in der Nähe der Porte de Choisy. Ich wohnte zwar nicht imHerzen von Paris, aber immerhin, es war gar nicht so schlecht. Die Rezeptionistin war Marokkanerin, wir konnten Arabisch miteinander sprechen. Die Buslinien und das Netz der Metro beherrschte ich recht bald. Ein erster Orientierungsversuch führte mich ins Quartier Latin, nahe der Metrostation Saint-Michel, wo ich mich in ein Café setzte und die Passanten beobachtete. Ich war frei. Frei! Ich wiederholte es mir immer wieder, ohne es recht zu glauben. Ich hatte keinen Plan, nicht das geringste Vorhaben. Keine Freunde, kein Netzwerk. Aber ich war frei. Das war überwältigend.
Am Nachbartisch sprachen zwei junge Mädchen und ein Mann, offensichtlich arabischstämmig, darüber, dass sie spät am Abend noch zum Feiern in eine Disko gehen würden. Ich hörte ihnen fasziniert zu und beneidete sie. Ich brannte darauf, sie anzusprechen. Aber ich habe mich dann doch nicht getraut. Diese elegante und zugleich so zwanglose Stadt schüchterte mich ein.
Am nächsten Morgen nahm ich die Metro bis zur Station Champs-Élysées. Davon hatte ich schon als kleines Mädchen geträumt. Der Himmel war klar, die Avenue noch breiter, als ich sie mir vorgestellt hatte, und das Café Le Deauville lag genau an der Stelle, die Mama beschrieben hatte. Ich rief sie an: »Mama, das Deauville ist immer noch blau!« Ich wusste, dass ich damit an eine empfindliche Saite bei ihr rührte. »Siehst du, wie die Geschichte sich wiederholt? Meine Tochter wandelt auf den Spuren meiner Jugend ... Wie gern wäre ich bei dir, Soraya!«
Dann ging ich in das Kaufhaus Sephora, von dem ich Mabruka hatte erzählen hören. In der Parfüm-Abteilung testete ich so ziemlich alles, was angeboten wurde, misstrauischbeobachtet vom Aufsichtspersonal. Eine Verkäuferin schlug mir vor, Paris von Yves Saint Laurent zu kaufen, aber ich musste meine Mittel überschlagen. Ich besaß 1000 Euro, mein Hotelzimmer kostete 25 Euro pro Tag, weitere 25 musste ich für Lebensmittel und Fahrtkosten rechnen. Damit kam ich gerade mal 20 Tage weit. Adieu, Parfum. Der Kosmetikabteilung, die mich so sehr reizte, kehrte ich lieber gleich den Rücken. Morgen war auch noch ein Tag. Dann würde ich sie in aller Ruhe durchstreifen, ich hatte ja nun alle Zeit der Welt.
Als ich einem Liebespaar begegnete, das sich unbefangen küsste, musste ich an Hicham denken. Ich hatte mich bisher zurückgehalten, ihn anzurufen. Wozu auch? Ich würde ihm doch nur Probleme bereiten. Nun aber ging ich und lud schnell meine Telefonkarte auf. Und kaum hörte ich seine Stimme, fing ich auch schon an zu weinen.
»Zwei Tage bist du weg!«, sagte er. »Zwei Tage, an denen ich pausenlos an dich gedacht habe! ... Ich komme zu dir, sobald ich kann. Ich habe schon alles Nötige eingeleitet, um einen Pass zu bekommen.« Es war also sein Ernst? Er wollte mit mir leben? Mein Gott! Ich wollte nicht mehr warten. Man musste den Vorgang beschleunigen, ihm helfen, dass er diesen verdammten Pass bekam, ein in Libyen so seltenes und kostbares Gut. Aber mit Geld war alles möglich. Ich rief Papa an: »Du hast mir nur 1000 Euro dagelassen, es ist zu wenig! Wie soll ich damit auskommen?« Am nächsten Tag überwies er mir 2000 Euro, die Hälfte davon schickte ich Hicham.
In den Tagen, die dann folgten, hatte ich eine Reihe von Begegnungen, die, das ist mir heute klar, zum Schiffbruch meines Aufenthalts in Frankreich geführt haben, genauer gesagt:zu seinem totalen Scheitern. Es ist schrecklich, das zugeben zu müssen. So demütigend, einzugestehen, dass ich meine Chance verspielt habe. Wie konnte es dazu kommen? Ich glaube, ich habe mein Vertrauen den falschen Leuten geschenkt. Ich habe eine schlechte Wahl getroffen. Ich war von erschreckender Naivität. Aber gut, es ist eben schiefgegangen.
Ich kam nach Paris im Februar 2009, wenige Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag, und ich kannte nichts – außer der Willenlosigkeit, der Perversität und dem Zynismus der engen Welt, in der man mich gefangen gehalten hatte. Ich wusste nichts vom Arbeitsleben, von den Beziehungen in einer Gesellschaft, vom Umgang mit Zeit und Geld, von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Männern und
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