Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
hupte, brüllte meinen Namen. Ich fürchtete die Reaktionen der Nachbarn und rief ihn darum lieber an. Aber wozu sollte ich ihn treffen? Warum das Risiko eingehen, ihn erneut dem Zorn Gaddafis und seiner Schergen auszusetzen? Ich wusste, sie konnten schon für Geringeres töten.
Als Mama nach Tripolis kam, um gemeinsam mit uns den Freitag, den Tag des Gebets, zu verbringen, wagte ich ihr in verhüllten Worten von einem Problem zu sprechen, das ich an der Brust hatte. Dadurch, dass sie so oft durchgeknetet, gequetscht, gebissen worden waren, waren meine Brüste erschlafft und taten mir sehr weh. Ich war einundzwanzig Jahrealt und hatte die Brust einer alten Frau. Als meine Mutter das sah, war sie entsetzt. Natürlich müsste ich einen Arzt aufsuchen, einen Spezialisten! Das konnte ich nur in Tunesien. Sie gab mir 4000 Dinar und organisierte alles so, dass ich mit meinem kleinen Bruder nach Tunis reiste. Eine anständige junge Frau reist nie allein ...
Als ich zurückkam, erwartete mich eine neue Prüfung: Aziz’ Hochzeit mit einem Mädchen aus Sirte. Ich hätte glücklich sein müssen, Hochzeitsfeste sind Anlass zu Fröhlichkeit und schönen Begegnungen. Alle Mädchen in meinem Alter lieben so was. Man zieht sich festlich an, man frisiert sich, schminkt sich. Man trifft einen Cousin wieder, man steht selber ein wenig im Rampenlicht ... Aber genau das fürchtete ich: die Blicke, die Fragen, die Gerüchte, die mein Fehlen bei vorausgegangenen Familienfeiern ausgelöst haben musste. Und ich war auch eifersüchtig, ich gebe es zu. Die junge Braut würde schön sein, jungfräulich, geachtet. Ich dagegen kam mir abgenutzt vor.
Ich entschied mich für Zurückhaltung und setzte darauf, nicht aufzufallen. Mama war tief gekränkt, dass ich kein langes Kleid anziehen wollte. Ich zog lieber eine hübsche farbige Bluse an, dazu eine elegante schwarze Jeans. Und blieb allen gegenüber diskret. Für die unvermeidlichen Fragen hatte ich Antworten parat: Ich war in Tripolis zur Schule gegangen, hatte danach Zahnmedizin studiert. Ja, alles lief bestens in meinem Leben. Heiraten? Eines Tages, gewiss ... »Ich habe einen Mann für dich«, flüsterte dann die eine oder andere Tante. Ich musste lächeln. Der Schein war gewahrt.
Und das Leben ging weiter in Tripolis. Aziz zog mit seiner Frau bei uns ein. Sie nahmen sich das große Zimmer, ichmusste mich einschränken. Umso mehr, als mein Bruder nun begann, sich als Familienoberhaupt aufzuspielen, sich über meine Zigaretten entsetzte – obwohl ich nur auf der Toilette rauchte – und schnell auch mal zuschlug. Ich erkannte ihn nicht wieder. Das Gleiche dachte er vermutlich von mir. Mehrere Male kam ein Fahrer aus Bab al-Aziziya, um mich zu holen. Er fuhr allein zurück. Man sagte ihm, ich sei nicht da. Ich war erstaunt, dass sie nicht weiter insistierten.
Dann beging ich den Fehler, mit dem ich das Vertrauen, das Mama allmählich wieder in mich setzte, definitiv zerstörte. Ich benutzte Bab al-Aziziya als Vorwand, um am Jahresende 2010 mit Hicham ein paar Tage zu verschwinden. Welche Ironie, nicht wahr? Ich täuschte einen Anruf von Mabruka vor und sagte zu meiner Mutter: »Ich werde wohl drei, vier Tage wegbleiben.« Das war niederträchtig, aber ich hatte nur dieses eine Mittel, um ein wenig Freiheit für mich zu ergattern.
Bei meiner Rückkehr war der Krieg zwischen uns erklärt. Bab al-Aziziya hatte mich tatsächlich angefordert. In den Augen meiner Familie war ich damit verloren.
11
Befreiung
Am 15. Februar ging die Bevölkerung von Bengasi auf die Straße. Frauen. Überwiegend Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen von politischen Gefangenen, die 1996 im Gefängnis von Abu Salim ermordet worden waren – sie protestierten gegen die plötzliche Inhaftierung ihres Anwalts. Die Nachricht verblüffte alle, obwohl ich ja wusste, dass auch inTripolis viele Leute sich darauf vorbereiteten, zwei Tage später, am 17. Februar, den man später zum »Tag des Zorns« erklärte, zu demonstrieren. Es war faszinierend für mich, diese wachsende Erbitterung und Rebellion in der Bevölkerung zu erleben. Ich konnte mir nicht vorstellen, worauf sie hinauslaufen würde, Muammar al-Gaddafi erschien mir ewig und unabsetzbar. Aber ich beobachtete mit Erstaunen, dass Bekundungen der Respektlosigkeit ihm gegenüber immer zahlreicher wurden. Man begann sich lustig über ihn zu machen, ihn mit bösem Spott zu überschütten. Man hatte noch immer Angst vor ihm, wohl wissend, dass er das Recht über
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