Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Leben und Tod eines jeden Libyers besaß. Aber diese Angst hatte die Färbung von Verachtung und Hass angenommen. Und den äußerten die Tripolitaner immer offener.
Am 16. Februar, vielleicht unter dem Eindruck der aufkeimenden Revolution, verließ ich das Haus. Es war meine kleine persönliche Revolution. Man hielt mich für eine Herumtreiberin? Also gut. So würde ich denn Wasser auf ihre Mühlen gießen. Ich verließ meine Familie und ging zu einem Mann – ein nicht nur unfassbarer, sondern auch illegaler Schritt in Libyen, wo jede sexuelle Beziehung außerhalb der Ehe strikt untersagt ist. Aber was hatte ich mit dem Gesetz zu schaffen nach all den Gesetzesbrüchen, die genau derjenige an mir begangen hatte, der dieses Gesetz verkörpern sollte? Würde man es wagen, mich dafür zu verurteilen, dass ich mit dem Mann leben wollte, den ich liebte, während der Herrscher über Libyen mich jahrelang eingeschlossen und vergewaltigt hatte?
Hicham und ich richteten uns in einem kleinen Bungalow ein, den er selbst in Ain Zara, in der Umgebung von Tripolisgebaut hatte. Er arbeitete für einen Fischer, für den er nach Tintenfischen tauchte. Ich wartete auf ihn und bereitete ihm das Essen. Etwas Besseres konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hätte so gern an der großen Demonstration vom 17. Februar teilgenommen, aber das war unmöglich. Ich war zu weit entfernt, und so blieb ich denn vor meinem Fernseher kleben, wo Al-Dschasira Live-Aufnahmen von den Aufständen übertrug. Ich zitterte vor Aufregung! Es war überwältigend! Mutig erhoben sich die Libyer. Libyen erwachte. Endlich! Ich löschte auf meinem Handy sämtliche Nummern von Bab al-Aziziya. Die würden jetzt andere Sorgen haben, als mich zu suchen.
Dank einiger Beziehungen zum Gerichtshof in Tripolis erreichte Hicham, dass wir heimlich einen Heiratsvertrag unterzeichneten. Es gab weder eine Feier noch eine Mitteilung an meine Eltern, die im Übrigen niemals ihre Einwilligung gegeben hätten. Doch diese Urkunde hat mich vorübergehend beruhigt, wenn ich auch später feststellen musste, dass das Dokument keinerlei juristische Gültigkeit besaß.
Und dann zeigte Al-Dschasira eines Tages die Bilder von einer jungen Frau, Inas al-Obeidi, die in den Speisesaal eines Luxushotels in Tripolis gestürmt kam, in dem die westeuropäische Presse residierte, und schrie, dass sie von Milizionären Gaddafis vergewaltigt worden sei. Eine unerhörte Szene. Und während sie sich ihre Geschichte von der Seele schrie, stürzten Leute von der Sicherheit und vom Protokoll zu ihr hin, um sie zum Schweigen zu bringen. Aber sie machte weiter, weinte, wehrte sich. Journalisten versuchten dazwischenzugehen, aber schließlich wurde sie mit Gewalt abgeführt, was in der ganzen Welt für Irritationen sorgte. Ihr Mut hatmich umgehauen. Man würde sie mit Sicherheit für verrückt erklären. Oder als eine Prostituierte. Aber sie hatte den Schleier gehoben über dem Schicksal Tausender Frauen, denn ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass Gaddafis Truppen dem Vorbild ihres Herrn gefolgt waren und sich in gleicher Weise an Frauen vergreifen durften.
Freunde von Hicham ließen ihm die Nachricht zukommen, dass Bab al-Aziziya, nun gewarnt, »aufräumen« würde und die unbrauchbar und kompromittierend gewordenen Zeuginnen zu beseitigen suchte. Ich erfuhr, dass bewaffnete Kräfte im Sold von Gaddafi – die berüchtigten Kata’ib – mich von zu Hause abholen wollten und meine Eltern unter Drohungen verlassen hatten. Mama hatte sich in ihrer Angst nach Marokko geflüchtet. Papa, den man hart in die Mangel genommen hatte, hatte ausgesagt, dass ich mit ihr gegangen sei. »Sorgen Sie dafür, dass sie zurückkommt!«, hatte man ihm befohlen. Leute von den Kata’ib-Brigaden waren auch bei Hichams Eltern aufgetaucht. »Wo ist Soraya?« Die Familie hatte erklärt, dass sie mich nicht kenne, doch Hicham war auf das Kommissariat des Stadtviertels bestellt worden. »Ich muss dich nach Tunesien bringen«, sagte er zu mir. »Wir dürfen keinen Tag verlieren.«
Er vertraute mich einem Freund an, der einen Krankenwagen fuhr, so bin ich über die Grenze gelangt und bei meinen tunesischen Verwandten untergekommen. Ich verfolgte Tag für Tag die Nachrichten aus Libyen. Die Luftangriffe der NATO, das Vorrücken der Rebellen, die ganze Brutalität eines echten Krieges. Ich lebte in Angst. Ich wollte nach Libyen zurück. Hicham lehnte kategorisch ab. Er hatte Angst, die Rebellen könnten mich für eine Komplizin
Weitere Kostenlose Bücher