Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
deinen Bruder in fünfzehn Jahre Gefängnis umwandeln, es liegt allein bei dir.« Als Gegenleistung muss Hadija fortan in Bab al-Aziziya wohnen, in die Gruppe der (falschen) Leibgarden Gaddafis eintreten und sich seinen Wünschen fügen. Sie tut es, halb tot vor Angst, sie zieht in jenes Untergeschoss ein, in dem später auch Soraya wohnen wird, und gehört nun zu einer Schar von Mädchen, die sie auf etwa dreißig ständig anwesende schätzt. Wie Soraya wird sie zu jeder Tages- oder Nachtzeit gerufen, sie beobachtet die eintreffenden »Lieferungen« jungfräulicher Mädchen, die keine Ahnung haben, was sie erleiden werden, die Blitzbesuche junger Männer, die Tricks mancher Frauen, um an Häuser, Autos, Geld zu gelangen.
Aber schon bald wird man ihr eine neue Aufgabe übertragen: Sie soll bestimmte Würdenträger des Staates und Gaddafi nahestehendeprominente Persönlichkeiten durch Verführung in eine Falle locken. Man setzt sie in eine ihrer Beschreibung nach luxuriöse Wohnung – »fünf Sterne«, sagt sie – auf dem Gelände von Bab al-Aziziya, die ganz und gar mit Überwachungskameras ausgerüstet ist. Dahin soll sie Personen locken, auf die man sie hinweist und die man ihr wie zufällig in den Weg führt, jedes Mal mit einer Empfehlung, wie sie sie anzumachen hat. Ihre Aufgabe ist es dann, diese Leute so schwer wie möglich zu kompromittieren, indem sie sie zum Genuss von Alkohol verleitet und mit ihnen schläft. Die Filme werden dem Führer als Instrument der Erpressung zur Verfügung stehen, sobald er ihrer bedarf. Die Namen, die Hadija mit großer Genauigkeit aufzählt, sind beachtlich, sie reichen vom Chef des libyschen Nachrichtendienstes bis zu dem einen oder anderen Minister, Oberst, General oder engsten Cousin Gaddafis. Die junge Frau bestätigt, dass sie sogar nach Ghana ins Hotel Golden Tulip geschickt wurde mit der Mission, den Botschafter sowie den Buchhalter der Botschaft zu verführen.
Wie Gaddafi es mit den meisten seiner »Töchter« hält (auch Hadija besitzt diesen berühmten Ausweis), teilt er ihr eines Tages autoritär einen Ehemann zu, den er aus seiner Clique auswählt. Hadija hat keine Wahl, aber wenigstens rückt sie damit in die Gemeinschaft der verheirateten Frauen auf, was sie in den Augen der libyschen Gesellschaft wie auch ihrer Familie achtbarer macht. Sie hofft auf ein neues Leben, nährt die Illusion einer richtigen Hochzeit, und da sie über ein wenig Geld verfügt, geht sie in eine Klinik in Tunesien und lässt sich das Jungfernhäutchen operativ wiederherstellen. Am vorgesehenen Tag, während die geladenen Gäste sich im Hausihrer Mutter drängen und man ihre Hände gerade mit Henna bedeckt hat, klingelt das Telefon. Es ist Bab al-Aziziya. Der Führer verlangt, dass sie auf der Stelle zu ihm kommt. Sie protestiert. »Heute ist mein Hochzeitstag!« Man droht ihr. Den Tod im Herzen fährt sie hin. »Er hat mich wieder geöffnet. Er musste mir auch diesen Augenblick kaputtmachen. Er musste zeigen, dass er noch immer der Herr war.« Eine Hochzeit änderte nichts daran.
Im Februar 2011, in den ersten Tagen der Revolution, kommt Saad al-Falah mit vier Soldaten zu ihr und befiehlt ihr, über einen nationalen Fernsehkanal eine Erklärung abzugeben, in der sie sagen soll, dass sie von Rebellen vergewaltigt worden sei. Das käme einer Bombe gleich. Hadija gehört zum mächtigen Stamm der Warfalla. Die öffentliche Enthüllung einer Vergewaltigung wäre ein derartiger Angriff auf die gemeinsame Ehre, würde einen solchen Skandal auslösen, dass sie sofortige Vergeltungsaktionen zur Folge hätte und den Anschluss des größten libyschen Stammes an die revolutionäre Bewegung verhindern würde. Aber Hadija begreift vor allem, wie sehr dieses falsche Bekenntnis sie in aller Augen verurteilen würde. »Meine eigene Familie würde mich umbringen.« Sie weigert sich. Man schlägt sie, vergewaltigt sie, foltert sie mit brennenden Zigaretten. Einer der Wachsoldaten bricht ihr das Schienbein mit der stählernen Kante seines Stiefels, so dass sie von einem Arzt aus Bab al-Aziziya notbehandelt werden muss. Am Ende akzeptiert sie den Befehl zum Schein, unter der Bedingung, dass sie zuvor zu ihrer Mutter in das Viertel von Tajura zurückkehren darf, um sich ein wenig zu erholen. In der Nacht gelingt es ihr, der Überwachung durch die vorm Haus postierten Soldaten zu entkommen, und sie flieht im Nachthemd,nur mit ihrem Pass ausgerüstet, durch die Hinterhöfe. Rebellen, auf die sie bei ihrer
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