Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
und wurde nach wie vor unterbezahlt. »Mit der Zeit machte sich unter den Mädchen meines Jahrgangs Verbitterung breit. Unser Studium war reine Hochstapelei gewesen, unsere Liebe zum Vaterland erlosch. Wir sagten uns: Wir haben unser Leben verfehlt! Ich habe aufgehört, die Uniform zu tragen, meine Matrikelnummer vergessen, meine Fitness vernachlässigt und alles missachtet, was ich an der Akademie gelernt hatte. Ich könnte heute nicht mal mehr eine Kalaschnikow auseinandernehmen!«
Ja, in der Leibgarde hätte sie natürlich manche Vorteile gehabt, vor allem in punkto Reisen und Gehalt. Aber dazu musste man groß sein, hübsch, langes Haar haben ... und dem engsten Umfeld von Gaddafi oder dem Führer selbst irgendwann aufgefallen sein, wie Salma Milad, die in Sorayas Bericht mehrfach auftaucht und die er bei einer seiner Reisen in ihre Heimatstadt Zliten bemerkt hatte. »Die Leibgarde stellte kein wirkliches Korps dar. Sie war nur eine Ansammlung von Mädchen, die aus den Sondereinheiten, den Revolutionären Garden, der Polizeischule, der Militärakademie, den ›Revolutionären Nonnen‹ und der Schar der aktuellen Konkubinen hervorgegangen war. Gaddafi bediente sich ihrer nach Belieben, und keine hatte die Möglichkeit, sich ihm zu verweigern, schon gar nicht, sich zu beschweren. Die Schlauesten unter ihnen haben es auszunutzen verstanden und sich Autos und Häuser schenken lassen. Aber ich bitte Sie, vergessen Sie die Vorstellung von einer Elitetruppe! Es war sonst was. Ein simples Accessoire, in das Gaddafi aus taktischen Erwägungen auch ein paar schwarze Frauen aufnahm, um zu zeigen, dass er kein Rassist war, und um sich die afrikanischen Länder gewogen zu halten. Seine wirklichen Bodyguards,die für seine persönliche Sicherheit verantwortlich waren, traten nicht in Erscheinung. Das waren Männer aus seiner Heimatstadt Sirte.«
Den Aufstand gegen Gaddafi zu Beginn des Jahres 2011, sagte Fatima, habe sie mit großer Erregung verfolgt. Am 20. März schloss sie sich ihm offiziell an und stellte ihre Kalaschnikow »den Rebellen zur Verfügung«. Aber sie verblieb im Innern des Systems, schleuste möglichst viel an Informationen nach draußen und verteilte Flugblätter in den Büroräumen der Armee. »Desertieren kam nicht in Frage, dann würden meine Eltern und ich heute in einem Massengrab liegen.« Derzeit gehörte sie zu dem von Abdul Hakim Balhaj, dem Militärkommandanten von Tripolis, geführten Armeekorps und sagte, sie habe ihren Elan und den Glauben an ihren Beruf wiedergefunden. Aber sie wusste, dass es Zeit brauchen würde, um die angerichteten Schäden wiedergutzumachen und den Frauen in Uniform ihr Ansehen zurückzugeben.
Im Gefängnis von Zawiya, einer kleinen, 50 Kilometer von Tripolis entfernten Küstenstadt, traf ich den anderen weiblichen Oberst. Anfangs lehnte sie es ab, mir ihren Namen zu nennen, aber dann, am Schluss des Gesprächs, warf sie ihn mir ganz unerwartet und wie einen Vertrauensbeweis hin. Ein Geschenk. »Also schön! Ich heiße Aisha Abdul Salam Milad. Machen Sie’s gut!« Die Zelle am Ende eines kleinen Hofs war gelb gestrichen, sie hatte eine eiserne Tür mit einem schweren Riegel davor und ein vergittertes Fenster und war mit zwei Schlafplätzen ausgestattet: einer Matratze direkt auf dem Boden und einem heruntergekommenen Metallbett. An einem Kabel, das an einer Wand entlanglief, hing eine schwacheGlühbirne, in einer Ecke stand ein kleiner elektrischer Heizkörper, und mit einem Wasserkocher war in kurzer Zeit ein Tee bereitet. Dass zwei Menschen in diesem winzigen Raum eingesperrt waren, überraschte mich erst einmal, und ich dachte, ich hätte es mit zwei Gefangenen zu tun. Doch die elendere von den beiden, eine Frau mit tief in den Höhlen liegenden Augen und erschöpftem Gesichtsausdruck, kauerte auf dem Bett und erklärte mir, sie sei die Wärterin. Nachdem sie fünf Jahre lang in ihrem Auto geschlafen habe – »Niemand wollte einer armen, alleinstehenden Frau ein Zimmer vermieten!« –, ziehe sie es jetzt vor, mit der Gefangenen die Zelle zu teilen.
Letztere schien dagegen recht gut in Form zu sein. Groß und schlank, die Haare unter einem Turban zusammengesteckt, hatte sie ein feines Gesicht mit einem Schönheitsfleck auf der linken Wange und trug mit sportlicher Eleganz ein gestreiftes Sweatshirt unter einem schwarzsamtenen Jogginganzug. Sie saß im Schneidersitz auf ihrer Matratze, bereit, über ihre Laufbahn zu reden, legte jedoch Wert darauf, eines von
Weitere Kostenlose Bücher