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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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Religion und die libysche Kultur diskutiert wurde« gehandelt. Diskutiert?
    »Aber ja!«, beharrte Londero, als ich ihn telefonisch in Rom erreichte. »Der Führer hat die Unkenntnis und das Unverständnis gegenüber seinem Land gespürt. Also lag ihm sehr daran, die Kulturen einander näherzubringen und einen Dialog zwischen libyschen und westlichen Jugendlichen zu etablieren. Er forderte seine Zuhörer auf, Fragen zu stellen, und hat dann geduldig und mit pädagogischem Geschick geantwortet. Für all diese jungen Mädchen, das versichere ich Ihnen, war das eine einmalige Erfahrung!« Der Islam? »Ja, er hat das ziemlich schlau gemacht! Er wusste natürlich, dass sein Aufruf, zum Islam zu konvertieren, keine massenhaften Übertritte zur Folge haben würde. Aber er wusste auch, was für ein enormes Aufsehen er damit in den Medien erregen würde!«
    Letztlich wurde das Experiment an vier weiteren Abenden wiederholt, und mehr als tausend hübsche junge Mädchen – Londero betonte, dass auch junge Männer und »ganz normale« Mädchen dabei gewesen seien – dienten dem Diktator als folgsames Publikum. Einige wenige junge Frauen gaben danach an, den Weg des Islam einschlagen zu wollen, und hinterließen ihre Telefonnummer, die von einem auf der Lauer liegenden Personal eifrig notiert wurde. Doch der Führer ließ es dabeinicht bewenden. Es wurden enge Bande mit der Model-Agentur geknüpft, woraufhin diese ein Dutzend Reisen mit Gruppen von zwölf bis sechsundzwanzig Personen nach Libyen organisierte. Aufenthalte, deren Kosten komplett übernommen wurden, um »die Kenntnisse der libyschen Kultur und Lebensweise zu vertiefen«. Von wunderschönen Urlauben schwärmt eine der jungen Mitreisenden, eine englisch-italienische Schauspielerin, und davon, dass sie bei einem Ausflug in die Wüste zusammen mit dem Führer frühstücken durfte (Kamelstutenmilch und Datteln). Für sie steht fest, dass »die Frauen in Libyen besser als irgendwo sonst auf der Welt behandelt werden«. Auch andere waren davon so überzeugt, dass sie später in Rom an den Demonstrationen gegen die NATO-Angriffe teilnahmen, und eine kleine Gruppe, angeführt von Agenturchef Londero, begab sich im August 2011 auf eigene Kosten nach Tripolis, um ein Zeichen der Unterstützung gegen die Bomben zu setzen. Alessandro Londero kehrte erschüttert von diesem Aufenthalt zurück, und in seinem Gepäck befand sich, ihm anvertraut von Abdullah Mansur, ein Hilfeaufruf, den Gaddafi am 5. August 2011, kurz vor seinem überstürzten Aufbruch von Bab al-Aziziya, an Berlusconi verfasst hatte.
    Der Chef einer Model-Agentur als letzter Bote eines flüchtigen Diktators – ohne Zweifel ein Augenzwinkern der Geschichte.

8
Mabruka
    Seit meiner ersten Begegnung mit Soraya im Herbst 2011 ließ mir ein Name keine Ruhe: Mabruka. Sein Klang war mir nicht vertraut, obwohl ich wusste, dass das arabische mabruk »gesegnet« heißt und oft benutzt wird, um zur Feier eines Ereignisses seinen »herzlichen Glückwunsch« auszusprechen oder »alles Gute« zu wünschen. Aber Sorayas Mabruka hatte nichts von einem freudigen Ereignis. Sie sprach den Namen mit ihrer tiefen Stimme so hart aus, und in ihrem Blick brannten dabei Erinnerungen, die sie niemals würde teilen können, dass ich mir »Mabruka« in den düstersten Farben malte und als das fleischgewordene Böse vorstellte. Wer war diese Frau, die zu jedem Verbrechen bereit war, um ihren Herrn, einen Verrückten, zufriedenzustellen? Welcher Art war die Beziehung, die sie zu ihm unterhielt? Handelte es sich um Unterwerfung? Faszination? Beschwörung? Waren Ehrgeiz, Geldsucht und Machthunger ihre Beweggründe, oder musste man ihren Eifer, jeden Wunsch, jedes Phantasma, jede Perversion des Diktators vorauszuplanen, komplexeren und abgründigeren Sphären zuordnen? Verbargen sich dahinter tiefe Kränkungen, eine heimliche Verletzung? Wollte sie Rache nehmen? Wie sah ihr Leben vor Bab al-Aziziya aus?
    Soraya wusste darüber nichts, jedenfalls zu wenig, um mir auf die Spur zu helfen. Mabruka war ihr Geiselnehmer, ihr Kerkermeister, ihr Henker. Sie hatte Sorayas Leben bewusst und unwiederbringlich zerstört und in fünf Jahren nicht die geringste Geste der Menschlichkeit oder des Mitleids gezeigt. Sie wusste von den Vergewaltigungen, und sie hat sie tatkräftig unterstützt. Sie wusste von den Erniedrigungen, den Misshandlungen, der Grausamkeit – sie war Zeugin und Komplizin. Ein Mitarbeiter Gaddafis sagte mir später, sie sei eine

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